Premiere am 23.11.2013
Modernisiert, aber immer nahe am Libretto und: mit voller Kraft
Von nur wenig Opern lässt sich die Handlung historisch so genau verorten wie bei der Sizilianischen Vesper: Es handelt sich um den historisch verbürgten Aufstand der Sizilianer 1282 gegen die Herrschaft des Franzosen Karl I von Anjou, in dessen Folge die Insel von der französischen Fremdherrschaft befreit wurde und an das spanische Haus Aragón als Rechtsnachfolger der „Schwaben“ fiel. Nach seiner trilogia populare war Verdi ein berühmter Mann geworden und erhielt vom Théâtre Impérial den Auftrag, zur Weltausstellung 1855 eine Oper zu schreiben, die nach einem Libretto aus Eugène Scribes Schreibfabrik im Stile der grand opéra angelegt war. Obwohl die Uraufführung ein großer Erfolg wurde, war Verdi nicht recht zufrieden mit seinem Werk; es wurde zu einem der weniger gespielten Werke des maestro. Dem Historienschinken mit fünf Akten (Ballett, alle Handlungselemente linear auf der Bühne zeigend, großer szenischer Aufwand) wurde später genau das zum Verhängnis, weswegen ihm zunächst der Zeitgeschmack huldigte. In Italien konnte das Werk erst ab 1861, nachdem im Resorgimento die Bourbonen aus Süditalien vertrieben worden waren, in einer neuen Bearbeitung Fuß fassen. Heute wird die Oper als I vespri siciliani überwiegend in Italien gespielt. Im Trend der deutschen Opernhäuser, im Verdi-Jahr die weniger populären Werle wieder zu präsentieren, hatte die Oper Frankfurt das Werk in der letzten Spielzeit in der französischen Fassung vorgestellt. Nun kommt das Theater Freiburg mit der italienischen Version.
In der Barockoper hatte sich durchgesetzt, einen historischen Stoff mit echten historischen Figuren herzunehmen, ihn mit einer – im allgemeinen unhistorischen – Liebesgeschichte zu kreuzen und mit einem lieto fine, meist durch den
deus ex machina herbeigeführt, enden zu lassen. In vielen Verdi-Opern kommt zu diesem Grundprinzip das Familienprinzip hinzu – und besonders ausgeprägt in den Vespri, in denen der anfängliche Bösewicht Montfort seinen Sohn Arrigo wiederfindet und dadurch kein Bösewicht mehr ist: familiäre Bande. Die Liebesgeschichte zwischen dem Sohn Arrigo der Contessa Elena ist indes weniger ausgeprägt als die dramaturgische Konstellation des Arrigo, der sich zwischen dem wieder gefundenen Vater und den gegen diesen revoltierenden Freunden und seiner Geliebten befindet.
James Lee (Arrigo); Juan Orozco (Montfort)
Eine Erkennungsszene Sohn/Vater oder Tochter/Vater oder allgemein Kind/Eltern stellt häufig in der Dramaturgie von Stücken des 18. oder 19.Jhdts. die Wendung zum lieto fine her. Nicht hier, wo wegen Procidas Rachsucht lediglich zu einem retardierenden Moment auf dem Weg zur Katastrophe kommt. Sehr präsent ist auch das poltisch-historische Geschehen um den sizilianisch-italienischen Aufstand gegen die französischen Unterdrücker, was die Oper zu einer der politischsten in Verdis Schaffen macht. Warum gerade die Franzosen sich 1855 an diesem Stoff delektieren konnten, ist rätselhaft. Die Oper als Historienschinken stilgerecht im 13. Jhdt anzusiedeln, traut sich heute kaum mehr ein Regisseur zu. Also wird der Stoff, der durchaus viele zeitlose Aspekte enthält in Verdis Ära des resorgimento oder gleich ganz in die Gegenwart verlegt.
Anja Hildenbrand (Santa Rosalia); James Lee (Arrigo)
Der Regisseur geht mit einem doppelten Zeitbezug an die Geschichte heran: „Die Franzosen“, das sind Soldaten in modernen Uniformen, Képi oder Schiffchenmütze je nach Rang, alle mit trikolorer Schärpe. Ihr Chef Montfort indes in historisierender Uniform des 19. Jhdts aus der Zeit des Resorgimento – ebenso wie sein Gegenspieler Procida im Gehrock und mit an Verdi gemahnender Barttracht und Frisur. Die Sizilianerinnen in aktuellem Schwarz, zu Hochzeitsfeier und Vesper aber in wallenden weißen Kleidern. Stefan Rieckhoff hat die Kostüme entworfen und zeichnet auch für die Bühne verantwortlich. Da steht zunächst nur ein nacktes Halbrund mit einer Heiligenstatue (in der Hand Bibel und Totenkopf) in der Mitte, um welche die erste Szene spannungsgeladen inszeniert wird: die Rangelei zwischen den Franzosen und dem sizilianischen Volk. Szenisches wie musikalisches Bedrohungspotential wird aufgebaut – bis zum Auftreten Montforts, dessen Effektmöglichkeit leider von der Regie verschenkt wird und das ganz platt geriet. Im zweiten Akt liegt ein Ruderboot am Bühnenrand: Procida ist gelandet. Dieser ist vielleicht von der Regie am eindrücklichsten gezeichnet: agent provocateur, der die Franzosen animiert, sich auf die sizilianischen Frauen zu stürzen, damit der Aufruhr ihrer Männer beschleunigt werde. Diese Sizilianer haben nämlich, statt sich zu wehren, sich nur unter einer riesigen italienischen Flagge versteckt, während Procida, zunächst noch mit einer gewissen Sympathie auftretend, seine nostalgische Palermo-Arie singt. Dann kommt noch einmal Spannung auf, als die Franzosen die Sizilianerinnen wegschleppen und diese – ein starkes Bild – zurückkehren und mit den anderen zerzaust und geschändet zum Fest ziehen.
In der Folge wird das Geschehen auf der Bühne immer statischer und gerät streckenweise zum Steh- und Rampentheater. Richtige Aufmischer wollen nicht mehr gelingen oder sie bleiben erklärungsbedürftig wie das plötzliche Herauffahren der Santa Rosalia, nun plötzlich lebendig werdend, oder die Videosequenz, in welcher ein Gepard eine Gazelle zur Strecke bringt, die gleich zweimal gezeigt wird: Sollte das mit irgendeinem Jagdgeschehen auf der Bühne korrelieren? z.B. Sizilianerinnenhatz? Auch das stumme Herumgeistern des ermordeteten Federigo trägt nur wenig bei. Während bei den großen Chortableaus zu den Aktschlüssen die Chorbewegung zugunsten eines gewaltigeren Klangbilds durchaus zurücktreten kann, ist die schwache bewegungsmäßige und schauspielerische Regie der Solisten deren Charakterisierung abträglich.
Der "Befreier": Jin Seok Lee (Procida)
Nur Procida wirkt in seiner Entschlossenheit und Unbeugsamkeit glaubhaft, Montfort und Arrigo bleiben bei einfachster Standardgestik. Dabei wird auch eine zweite ansonsten sehr bühnenwirksame Stelle vergeben, in der sich Arrigo zwischen Vater und die dolchschwingende Geliebte stürzt. Was ein szenischer Höhepunkt sein soll, gerät zum müden Auftritt. Der Bühnenaufbau schreitet voran: Gemach des Montfort und Festsaal werden aufgebaut; ein Gefängnis als einfachste Käfigstruktur; und schließlich wieder zurück zur leeren Fläche mit Santa Rosalia, um welche herum nun das Gemetzel die Oper beendet: Procida scheint als einziger übrig geblieben zu sein und schwenkt die italienische Trikolore: historisch heißt das nichts anderes als die Annexion Siziliens durch Piemont-Sardinien 1860 (Zug der Tausend). Die Lega Nord bedauert das noch heute… Gemischte Gefühle hinterlässt letztlich diese Regiearbeit.
Die Musik, die Verdi für diese französische Oper eingefallen ist, gehört nicht zum Filigransten, was der maestro geschrieben hat, sondern ist sehr auf Effekt und Überwältigung aus: Nachwehen des Geschmacks der grand opéra eben. Soweit die Partitur über Feinheiten verfügt, so hat sie Fabrice Bollon am Pult des Philharmonischen Orchesters Freiburg nicht heben wollen. Die für Verdi lange, für die Grand Opéra aber typische Potpourri-Ouvertüre gelang recht differenziert und spannungsreich süffig-schmissigem Verdi bis zu akzentuierten dramatischen Schärfungen und dräuenden Streicher-Crescendi. Dabei ist das gar nicht so einfach zu musizieren. Die charakteristische Unruhe verkündende Leitformel de Musik, das kurze rhythmische vorschlagähnliche Motiv mit mit zwei 32steln liegt an der Grenze des distinkt Spielbaren, vor allem wenn es in die tieferen Instrumente übernommen wird; und das muss sogar der große Chor bewältigen. In der letzten Schärfe gelang das nicht. Insgesamt war Bollon stark auf Effekt aus und ließ es zeitweise mit holzschnittartiger Grobheit aus dem Graben krachen. Die von Bernhard Moncado prägnant einstudierten Chor und Extrachor über überzeugten mit ihrer Klanggewalt und runden Geschlossenheit, aber ihre schiere Masse schaffte sich hier und da rhythmische Freiräume, die Bollon mit prägnanten Schlägen wieder schließen musste.
Die Oper hat die typische personelle Dreierkonstellation der italienischen Oper und dazu noch eine weitere tiefe Männerstimme. Die vier Hauptrollen gestalten fast den ganzen Abend. Bezüglich der Solisten stand die Neuproduktion des Freiburger Theaters nicht unter einem günstigen Stern. Wegen Erkrankungen musste die Premiere verschoben werden; Ersatz kann man bei dieser eher weniger gespielten Oper nicht so leicht einsammeln. Für die neuangesetzte Premiere meldete sich nun auch die Zweitbesetzung der Elena, Liene Kinča, als leicht indisponiert. Aber die Litauerin bewältigte die schwierige Partie abgesehen von minimalen Eintrübungen im mezza voce bravourös. Hervorstechend ihre kräftige dunkle und samtige tiefe Lage, ihr reifes und leicht eingedunkeltes espressivo und die glühenden dramatischen Passagen von großer Durchschlagskraft und Klarheit. Dazu überzeugte sie mit ihrer Bühnenpräsenz. Die zweite Top-Besetzung war Jin Seok Lee als Procida. Er stieg kraftvoll bis in die Tiefen ab und kombinierte Stimmkultur mit der donnernden Durchschlagskraft und Schwärze, die es für diese unversöhnlich antreibende Gestalt bedarf. Auch der Montfort von Juan Orozca konnte sich hören lassen. In der Höhe zunächst etwas schwankend intonierend festigte sich sein kraftvoll strömender Bariton schnell. Aber selbst in den Passagen, wo es ihm das Orchester erlaubt hätte, vor allem in seiner großen Arie zu Beginn des dritten Akts, war das dauernde Forcieren weder angebracht noch notwendig.
Beim dauernden Forcieren saß der junge Tenor James Lee als Arrigo am kürzesten Hebel. Zwar verfügt er über schönes, klares und helles Tenormaterial, musste sich aber im spinto sehr bemühen und wirkte doch teilweise noch eng. Gestik und Mimik sind bei ihm noch ausbaufähig. Er hat eine Stimme mit viel Potential, aber auch er powerte letztlich zu viel. Die musikalische Leitung hätte bei den Stimmen etwas mehr ausbalancieren können. – Alle Nebenrollen waren adäquat besetzt
Jin Seok Lee (Procida); Liebe Kinča (Elena); James Lee (Arrigo); Juan Orozko (Monfort)
Foto: K. Sannemann
Dem Publikum gefiel’s. Langanhaltender begeisterter Beifall aus dem ausverkauften Haus beendete die Premiere nach gut drei Stunden. Die sizilianische Vesper wird in dieser Spielzeit noch dreizehn Mal gegeben: am 5., 7., 13., 20., 25.12.; 10., 12., 17., 19., 24.1; 12., 14. und 16.2.
Manfred Langer, 25.11.13
Bilder: Maurice Korbel
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