In der Neuinszenierung der sehr oft gespielten Oper hat die junge österreichische Regisseurin Juana Inés Cano Restrepo die tieftraurige Geschichte um die Pariser Näherin Mimi aus dem manchmal verharmlosenden Biedermeier herausgelöst. Sie hat den Stoff aktualisiert, indem sie die zeitlose Auseinandersetzung mit dem Tod in den Mittelpunkt stellt, die Mimi wegen ihrer tödlichen Erkrankung unmittelbar trifft. Dazu braucht sie keine überbordenden Bühnenbilder, vielmehr hat sie eine minimalistische Ausstattung im Sinne des französischen Existenzialismus gewählt, um den jeweiligen Spielort anzudeuten (Christoph Gehre). Alle tragen zeitgenössische Kleidung (Lena Weikhard), wobei die „Bohèmiens“ passend ganz in Schwarz auftreten; warum allerdings der Philosoph Colline im Kostüm eines Tanzbären erscheinen muss, hat sich mir nicht erschlossen. Es sind Bilder und Handlungen entstanden, die nur selten mit dem Libretto zu tun haben, was man meist allzu deutlich an den zum Bühnengeschehen nicht passenden deutschen Übertiteln erkennen konnte. Die von den Librettisten und Puccini in der Pariser Bohème verortete Geschichte war überhaupt nicht zu erkennen, als noch vor den ersten Klängen aus dem Orchestergraben eine junge Frau in Jeans und mit einer rosa Mütze in einem sterilen, weiß ausgeschlagenem Raum ohne jedes Möbelstück herumlief. Wie sich herausstellte, war das Mimi, die von den dann auftretenden vier Männern nicht beachtet wurde; man lief ständig aneinander vorbei. Die grundlegende Idee der Regisseurin, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod irgendwie auf die Bühne zu bringen, wurde dadurch in Gang gesetzt, dass ein Herr in elegantem weißen Zwirn Mimi eine weiße Mappe mit Unterlagen übergab, aus dem dann sogleich rote Blütenblätter flatterten. Das sollte wohl die Nachricht über die todbringende Krankheit bedeuten, denn der später als Benoit auftretende Herr hatte ein Stethoskop dabei, also ein Arzt.
Das setzte sich im 2. Bild fort, als dort vor einem Weihnachtsbaum (es ist ja schließlich Heiligabend!) in einem hereingefahrenen Bett ein weiterer „Arzt“ als Alcindoro mit der wohl auch kranken Musetta Probleme hatte. Das Bild endete damit, dass alle Mitwirkenden nun vom „Arzt“ Parpignol Mappen mit Unterlagen überreicht bekamen und am Schluss alle bis auf die Kinder paarweise am Boden lagen. Im 3. Bild, im Original eine Zollstation, wurde klar, dass es in dieser Inszenierung wohl alles Bilder wie aus einem Traum mit Absurditäten sein sollten: Jetzt klammerten sich die männlichen und weiblichen Choristen, mit kurzen Hemdchen und wie Mimi mit einer rosa Mütze bekleidet, an große Lichtkugeln. Dabei wurden sie von den zwei „Ärzten“ bewacht, die den Part der Zöllner sangen (siehe Übertitel). Auch im Schlussbild war Mimi weiterhin von Anfang an auf der Bühne und holte aus allen Schränken und auch aus dem Kühlschrank (!) zahlreiche gestrickte Blütenköpfe und verteilte sie am Boden, auch so ein Traumbild. Zugegeben, es gab auch einige atmosphärisch dichte Bilder, z.B. im Liebesduett des 1. Bildes oder am Schluss vor dem tödlichen Ende.
Nun aber genug der Szenenbeschreibung – das ständige Bemühen, zu verstehen, was die Regisseurin eigentlich mit ihren teilweise rätselhaftenden Bildern sagen will, war für mich jedenfalls enttäuschend und hat mich sehr genervt.
Darüber halfen wenigstens die im Ganzen zufriedenstellenden musikalischen Leistungen etwas hinweg. Hildesheims GMD Florian Ziemenhielt alles gut zusammen und sorgte am Pult der gut aufgelegten TfN–Philharmoniedafür, dassdie vielen schwelgerischen Passagen der Partitur ihre Wirkung entfalten konnten. Den ganzen Abend von Anfang an auf der Bühne war als Mimi Sonja Isabel Reuter, die gestalterisch eine sehr starke Leistung bot. Erneut gefiel ihr volltimbrierter Sopran mit ausgeprägter Mittellage, den sie in den sicheren Höhen schön aufblühen ließ.
Hildesheims Haustenor Yohan Kim gab zuverlässig den Rodolfo, ließ aber seine recht große Stimme vor allem in den oberen Lagen zu undifferenziert ertönen; zu selten hörte man gut durchgebildete Piano-Passagen.
Eine temperamentvolle Musetta war die US-Amerikanerin aus dem Opernstudio der Münchener Staatsoper Jessica Niles, die einen klaren, sehr flexiblen Sopran hören ließ. Ihren Marcello gab der junge Schwede Mikael Horned, der mit markantem, gut durchgebildetem Bariton positiv auffiel. Der charaktervolle Bariton von Eddie Mofokeng passte bestens zur Rolle des Schaunard, der durchweg gute Laune verbreitete. Colline war mit inzwischen etwas schütterem Bass Uwe Tobias Hieronimi; dass die sonst so anrührende Mantel-Arie szenisch völlig verschenkt und nicht nur wegen des Tanzbären-Kostüms misslungen war, ist ihm nicht anzulasten. Jeweils solide waren Julian Rohde als Benoît, Parpignol und ein Zöllner sowie
Jörn Schümann als Alcindoro und Sergeant. Spielfreudig agierend sangen die von Achim Falkenhausen einstudiertenChöre, Opernchor und Extrachor des TfN sowie der Kinder- und Jugendchor des TfN, klanglich gut ausgewogen.
Wie in Hildesheim üblich gab es uneingeschränkten, lang anhaltenden Jubel für alle Mitwirkenden und das Regieteam.
Gerhard Eckels 19. November 2023
La Bohème
Giacomo Puccini
Hildesheim
Theater für Niedersachsen (TfN)
Premiere am 18. November 2023
Inszenierung: Juana Inés Cano Restrepo,
Musikalische Leitung: Florian Ziemen
TfN-Philharmonie