Krefeld: „Rusalka“

Rezension des LIVESTREAMS der Premiere v. 15.3.2020

OPER IN DEN ZEITEN VON CORONA

In Ariane Mnouchkines kultgewordenem Filmepos „Molière“ gibt es eine Szene, die dieses Phänomen in poetisch eindrucksvoller Weise veranschaulicht: die fahrende Theatertruppe hat ihre Bühne auf einem Markt aufgebaut. Während der Vorstellung zieht ein Gewitter heran, Wind kommt auf, erfasst die Vorhänge und schließlich das ganze hölzerne Theater, welches daraufhin vom Boden abhebt und übers Land schwebt. Die Schauspieler können sich kaum auf den Beinen halten, klammern sich an der Dekoration fest, schreien gegen den Wind an, während andere versuchen, der Bühne hinterherzulaufen und sie irgendwie am Wegfliegen zu hindern. Einer der Schauspieler ruft durch den Sturm: „Was sollen wir tun?“ Die Antwort lautete: „Weiterspielen!!!“

Und so hat in diesen Tagen, während europaweit Theater und Konzerthäuser ihren Proben- und Spielbetrieb einstellten, das Theater Krefeld-Mönchengladbach an seiner Mission festgehalten und Antonín Dvořáks Oper „Rusalka“ zur Aufführung gebracht. Zwar ohne Publikum, aber unter vollem Einsatz aller Beteiligten. Die Zuschauer durften via Livestream dabeisein.

„Rusalka“ – dieses laut Opernführer „lyrische Märchen in drei Akten“ kommt in Krefeld unter der Regie von Ansgar Weigner ganz ohne Wasserpflanzen, Fischschwänze und sonstiges submarines Kolorit aus. Stattdessen erleben wir eine spezielle Art von Unter(wasser)welt: einen düsteren, fast verliesähnlichen Kellerraum (Ausstattung: Tatjana Ivschina), aus dem lediglich eine Treppe nach oben in die Welt führt. Es gibt einen Tisch und eine Wandnische, in der ein Bett aufgestellt ist. In einem weißen, nachthemdartigen Gewand sitzt eine junge Frau im Rollstuhl und schreibt in ihrem Tagebuch: es ist die sich nach der Welt sehnende Rusalka, die Meerjungfrau, die gern wie die Menschen wäre, Füße und ein „richtiges“ Leben hätte – und dafür alles zu opfern bereit ist.

Die Metapher der Behinderung, des Ein- und gleichsam Ausgeschlossenseins, erklärt sich unmittelbar. Der Zusammenhang wird noch deutlicher, da man wenig später erlebt, wie die Hexe Ježibaba als emotional distanzierte und gestrenge Mutter ins Spiel kommt und der Wassermann als zwar liebevoller, aber auch hilfloser Vater dem Geschehen mit hängenden Armen zusehen muss. Schnell wird klar: hier sollen die Probleme buchstäblich im Keller gehalten werden. Als Zuschauer blickt man mitten hinein ins kranke Herz einer dysfunktionalen Familie.

Dass der später hinzukommende Prinz wie eine jüngere Ausgabe des Vaters wirkt, und auch die Fremde Fürstin im zweiten Akt als nahezu deckungsgleiches Abziehbild von Rusalkas Mutter erscheint, ist in dieser psychologisch fein ausgeloteten Inszenierung bis zum bitteren Ende beklemmend logisch.

Gesungen und musiziert wurde durchgängig auf bemerkenswert hohem Niveau.

Unter der Leitung von Diego Martin-Etxebarria spielten die Niederrheinischen Sinfoniker einen erdig-kernigen Dvořák mit viel Seele und Dramatik.

Der Opernchor (Einstudierung: Maria Benyumova) erfüllte seine Aufgaben untadelig.

Mit Spielfreude und schönen Stimmen – sowohl in ihren Solopassagen als auch im sehr homogen gesungenen Terzett – erfreuten als die drei Elfen Maya Blaustein, Gabriela Kuhn und Boshana Milkov. Mit schlankem und agilem Mezzosopran präsentierte Susanne Seefing den Küchenjungen. Den Heger gab Kairschan Scholdybajew. Hayk Dèinyan spielte und sang besonders in den drängenden Fortepassagen einen überzeugenden Wassermann. In der Rolle des Prinzen begeisterte David Esteban mit sicherer Höhe und einer strahlenden, durchsetzungsstarken und dabei immer schönen Tenorstimme.

Mit Dorothea Herbert als Gast in der Titelrolle konnte eine Sopranistin mit auffallend schönem Timbre gewonnen werden, die nicht nur ihr berühmtes „Lied an den Mond“ eindringlich zu gestalten wusste, sondern den gesamten Abend über mit inniger, differenzierter und bis in die großen Ausbrüche ihrer Partie wohlklingend-ausgeglichener Stimmgebung überzeugte.

Eva Maria Günschmann aus dem hauseigenen Ensemble ist in der Reihe der Solisten besonders hervorzuheben: mit jederzeit eleganter und sicher beherrschter Stimme meisterte sie nicht nur die hexenhaft zu gestaltende Mezzopartie der Ježibaba, sondern auch die eigentlich einem dramatischen Sopran zugedachte Rolle der Fremden Fürstin, wo sie sich in den exponierten Lagen ebenso sicher bewegte, wie sie zielgerichtet die Gefühle des Prinzen zu manipulieren und ihn damit Rusalka auszuspannen wusste – eine schauspielerische wie sängerische Spitzenleistung, die höchsten Applaus verdient.

Dieser blieb am Ende des Abends leider aus. Der Vorhang schloss sich. Der Live-Stream war beendet. Es gab keinen Jubel, keine freudigen, erschöpften, erleichterten Künstler vor dem Vorhang. Eigenartige Leere breitete sich aus und ließ auf diese Weise noch einmal deutlich werden, wie sehr Theater auf Menschen angewiesen ist. Natürlich auf die, die auf der Bühne und im Graben die Kunst lebendig werden lassen, aber auch auf diejenigen, welche nicht nur im Stream, sondern wirklich live dabei sind, die mitfiebern, lauschen, ergriffen und still sind oder in lauten Jubel ausbrechen. Und all das hätte diese Aufführung vollauf verdient.

Mögen alle Künstler weiterhin gesund bleiben, so dass, wenn der „Sturm“ einmal vorüber ist, dieser emotional wie intellektuell packenden Inszenierung viele „echte“ Vorstellungen vor vollem Haus beschieden sein werden.

Sibylle Eichhorn, 20.3.2020

Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN

Fotos © Matthias Stutte