„Octavian ist die treibende Kraft“, meint Regisseur Michael Wallner über die Titelfigur in Richard Strauss´ Oper Der Rosenkavalier, „er bringt die ganze Handlung erst in Fluß“. Nur, was ist dieser Octavian Maria Ehrenreich Bonaventura Fernand Hyacinth Rofrano, gesungen von einer Mezzosopranistin, der sich auch mal als Kammerzofe verkleidet, eigentlich? Ein Jüngling, eine junge Frau im Knabengewand? Etwas dazwischen? Der Rosenkavalier im Lübecker Jugendstiltheater, der am 18. Oktober 2025 umjubelte Premiere feierte, beantwortet diese Frage mit erfrischender Nicht-Festlegung.

Man muß nicht krampfhaft jedes Stück in die Moderne zwängen, um wesentliche Inhalte zu übermitteln. Gerade beim Rosenkavalier ermöglicht das Schwelgen in retrospektiver Schönheit und Opulenz, sich umso mehr den eigentlichen Aussagen zuzuwenden, und jenseits der Weisheit und Klarsicht, die sich im Libretto von Hugo von Hofmannsthal eröffnet, sind es auch klar gesellschaftskritische Aussagen, die hier im seidenen Rokoko-Rüschen-Gewand daherkommen, und bei Entkleidung die nackte Tatsache von sozialem Fehlverhalten offenlegen.
Aufrichtig gestanden: Dieser Rosenkavalier bezaubert optisch durchweg durch eine prachtvolle, handwerklich meisterhaft gemachte Bühne (Stefan Rieckhoff), detailverliebt gestaltete Kostüme (Tanja Liebermann), eine lebhafte Chorographie (Kati Heidebrecht) und eine abwechslungsreiche Lichtregie (Falk Hampel). Wie im Original spielt die Handlung vornehmlich um 1740, weist aber auch durch den Blick in eine Wiener Straße mit entsprechender Architektur und Gaslaternen in das 19. Jahrhundert und damit die große Walzerzeit. Im Prater schließlich grüßt das frühe 20. Jahrhundert durch Riesenrad-Beleuchtung und schaurige rotäugige Glühbirnen-Figuren herein. Das Spiel mit pastelligen Tönen des Spätbarock und kräftigen Koloriten, die vom Fin de siècle in die Jetztzeit führen, unterstreicht optisch den glanzvollen Reichtum der Klangfarben in der Partitur.

Das Theater Lübeck kann mit starken und vielseitigen Hauskräften aufwarten, die auch treue Besucherinnen und Besucher immer wieder zu überraschen vermögen.
Daß Evmorfia Metaxaki ihre Marschallin durch delikate Noblesse glänzen lassen würde, war Kennern der Sopranistin von vornherein klar. Aber sie verschafft dieser Figur eine bemerkenswerte Vielschichtigkeit, indem sie einerseits die verspielt-mädchenhafte Facette in der Kissen-Kuschelei mit ihrem jugendlichen Liebhaber bedient, andererseits der großen, auch im Herzen adeligen Dame, elegante Gestalt verleiht. Diese Entwicklung macht sie auch stimmlich hörbar, und mit ihrem satten, leuchtenden Sopran, höhensicher und warm, gibt sie der am Ende verzichtenden Feldmarschallin eine erhabene Würde.
Ihr Antipode in Werten, Haltung und Menschenbild ist Gast Johannes Maria Wimmer als grobschlächtiger Baron Ochs auf Lerchenau. Für den „Muttersprachler“, was den Dialekt angeht, ist die Textgestaltung zwischen Standesdünkel, Möchtegern-französischem Mode-Jargon und derber Äußerung seines wahren Charakters ein echtes Heimspiel. Mit fülligem Baß und passend sattem Selbstbewußtsein nimmt dieser unedle Adelige sich, was er will. Im NDR-Interview zog der sympathische Sänger den Vergleich zum orangefarbenen Horror-Clown, der derzeit die USA in die Autokratie führt. Dessen Verbindung von Bosheit, Dummheit und Primitivität mit der Naivität eines 5-Jährigen übertrifft jede satirische Darstellung, und so ist man froh darüber, daß der Baron von Testosteronien sich „still retirieren“ darf – es ist, wie die Marschallin weiß, mit seinem Auftritt, „mit dieser Stund‘ vorbei“.

Ebenfalls zu Gast in der Hansestadt ist Karola Sophia Schmid, eine Sophie zum Verlieben! Ja, sie spielt die junge Braut mit aller Frische der Mädchenblüte und umwerfend charmanter Koketterie, aber sie ist auch stimmlich eine echte Wucht, stark, verständlich im Text und strahlend. Man darf hoffen, diese begabte Sopranistin wieder in Lübeck begrüßen und feiern zu dürfen.
Ihr vom Schicksal an die Seite gestellt ist der junge Graf Octavian; es ist nicht nur das Rollendebut von Frederike Schulten, die junge Mezzosopranistin bestreitet damit, vom Humperdinck-Hänsel mal abgesehen, ihre erste große Hauptrolle, zumal in solch einer hochanspruchsvollen Oper. Grandios inszeniert ist der Auftritt als Überbringer der silbernen Rose mit Sternen-Firmament-Projektion – ja, hier wird mit Überzeichnung gespielt und in dieser Szene darf man es auch gerne krachen lassen. Ein Lohengrin könnte nicht silberglänzender erscheinen! Die Sängerin gestaltet ihre Rolle überzeugend ebenso bubenhaft-schelmisch wie adoleszent-selbstbewußt; ihre klare Stimme bleibt dabei jederzeit rund und beweglich, dabei kraftvoll und durchsetzungsstark. Ein fulminantes Rollendebut!
Überzeichnet, und zwar mit Recht und Absicht, ist auch der Neureiche Herr von Faninal, verkörpert von Steffen Kubach. Nach seinem reifen, psychologisch tiefgründigen Kurwenal im Lübecker Tristan gibt der vielseitige Bariton mal wieder dem Erzkomödianten in sich ein willkommenes Spielfeld. Mit einer an einen Cockerspaniel erinnernden Perücke (O-Ton Kubach!) und einem Kostüm, das eine seidene Sahnetorte assoziieren läßt, wechselt er vom aufstiegstrunkenen Neu-Adeligen zum verzweifelten Opfer der Verwicklungen und schließlich zum empörten Vater, dessen Herz doch unter all dem teuren Brokat noch für die eigene Tochter schlägt.
Andrea Stadel ist eine wunderbar überdrehte Jungfer Leitmetzerin; die Sopranistin changiert gekonnt von der fast hysterischen Fest-Vorfreude zur humorbefreiten Haltung der korrekten Anstandsdame.
Dritter Gast ist Franz Gürtelschmied, der überzeugend und schillernd den Italienischen Sänger im Farinelli-Kostüm und den Wirt mit akrobatischen Kunststücken gibt.
Noah Schaul verleiht dem Intriganten Valzacchi eine parodiert-diabolische Gestalt, sein gekonnt imitierter italienischer Akzent erinnert an die Fernsehwerbung, wo der freundliche Caffè-Maestro seiner hübschen Nachbarin gesteht: „Isch ´abe gar kein Auto.“Delia Bacher als Annina und Viktor Aksentijević in der Rolle des Polizeikommissars, beide Mitglieder des Lübecker Opernstudios, überzeugen stimmlich und machen ihre Auftritte zu echten Kabinettstücken, wodurch sie sie über die bloßen Nebenrollen hinausheben.Sämtliche anderen kleineren Rollen sind in Darstellung und choreographischer Einbeziehung mit Bedacht und Individualität inszeniert; im ersten Akt dürfte es etwas weniger an Gruppenbewegung sein, das wirkt leicht überzogen.

Der Rosenkavalier ist nun keine ausgesprochene Chor-Oper, aber die entsprechenden Szenen hat Chorleiter Jan-Michael Krüger sehr gut austariert. Mit viel Spielfreude und stimmlicher Präsenz fügen sich Damen- und Herrenstimmen harmonisch in das Gesamt von Solistenleistungen und dem orchestralen Bett.
Dieses Bett, um Octavian zu zitieren, „a mordsmäßig großes“, hat GMD Stefan Vladar aufs prachtvollste mit feinster Klangseide bezogen und die Kissen mit zartesten Federn aus Tönen gefüllt. Bevor jetzt die metaphorischen Prater-Karussellpferde durchgehen, sei nüchtern gesagt, daß sämtliche Solisten und Instrumentengruppen des Philharmonischen Orchesters der Hansestadt Lübeck die mordsmäßig schwere Partitur bravourös beherrschen. Eleganter Wiener Charme und die so eigene Melange aus Melancholie und selbstironischer Leichtigkeit, die ausgerechnet ein Münchner so treffsicher in Töne gesetzt hat, erklingen in kongenialer Authentizität aus dem Graben. Gerade das Finale ist – hier muß wieder ein Zitat her, diesmal von Sophie – fast „zu stark, als daß man´s ertragen kann“. Wen diese zauberischen Klänge nicht im Innersten berühren, ist ein grober Klotz und darf sich unter das Gesinde des ochsenköpfigen Barons mengen.
Die Travestien und unklaren bzw. changierenden Geschlechterrollen der Titelfigur scheinen wie gemacht für die aktuellen Gender-Diskussionen. In der Tat machen bereits die unterschiedlichen Anreden des Octavian, beispielsweise als „Taverl“ oder „Quinquin“ (im Französischen für ein kleines Kind gebräuchlich), dann wieder die Wahrnehmung als „rechtes Mannsbild“ den Facettenreichtum der Rolle deutlich. „Sei Er nur nicht, wie alle Männer sind!“, bittet die Marschallin ja ganz klar. Und ja, es ist immer eben eine Frauenstimme, die im Jung-Mann klingt. Die Frau spielt einen Jüngling, der in Frauenkleidern einen übergriffigen Hetero-Potenzler übertölpelt.

Auf die im Programmheft-Interview angeführte Einordnung des Rosenkavaliers als „queere“ Oper in verschiedenen Äußerungen der jüngsten Zeit, entgegnet Michael Wallner, „wie anstrengend es wirkt, das Queere ständig als das Besondere hervorzuheben zu müssen“. Und er fügt hinzu: „Im Umgang mit dem Spiel der Geschlechter können wir von der Barockzeit etwas lernen“, eben das nicht ganz festgelegte Moment: „man spielte Mann, man spielte Frau, alles war irgendwie »dazwischen« angesiedelt und blieb stets spielerisch“.
Man mag Wallner hier etwas Sozialromantik unterstellen, aber er hat völlig recht darin, daß es uns allen in der aktuellen Debatte guttäte, etwas die blähende Luft des tierischen Ernsts herauszulassen. Hilfreicher als Sternchen, Doppelpunkte und bemühte, im vorauseilenden Gehorsam erteilte sprachliche Zwangs-Integritäten wären sicher eine unaufgeregte Akzeptanz der Individualität des Gegenüber und vielleicht einfach das Bewußtsein, daß es sowieso niemanden etwas angeht, was andere in ihren Betten treiben. Müssen aufgrund der sexuellen Ausrichtung jeweils „der“, „die“ oder „diejenigen dazwischen und außerhalb“ ständig in den Ruch der Besonderheit gedrängt werden?
Zweifellos ist in jedem Falle, daß das Konzept der Lübecker Produktion voll aufgeht. Stehender Applaus am Premierenabend und zahllose „Bravo“-, „Brava“-Rufe (oder was auch immer dazwischen und außerhalb) feierten eine phantastische Gesamtleistung.
Andreas Ströbl, 19. Oktober 2025
Der Rosenkavalier
Komödie für Musik von Richard Strauss
Theater Lübeck
Premiere: 18. Oktober 2025
Inszenierung: Michael Wallner
Musikalische Leitung: Stefan Vladar
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Weitere Aufführungen: 31. Oktober, 9. und 29. November sowie 7. Dezember.