Mönchengladbach: „Die Passagierin“, Mieczyslaw Weinberg

Vergangene Spielzeit hatte Mieczyslaw Weinbergs phänomenale, auf einem Libretto von Alexander Medwedjew beruhende Oper Die Passagierin, der der gleichnamige Roman der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz zugrunde liegt, am Theater Krefeld ihre umjubelte Premiere. Der Opernfreund berichtete gleich dreimal darüber und zeichnete die Aufführung darüber hinaus mit dem Opernfreund-Stern aus. Seit einiger Zeit ist diese sensationelle Produktion nun auch am Schwesterhaus des Krefelder Theaters, dem Theater Mönchengladbach, zu erleben, und offenbar mit demselben großen Erfolg wie in Krefeld. Die hier zu besprechende Aufführung geriet wahrlich zu einer kleinen Sensation. Der Abend endete mit vielen Bravo- und Super-Rufen sowie mit Standing Ovations. Und das zu Recht.

© Matthias Stutte

Wieder einmal war der Eindruck ganz enorm. Geschildert wird die Geschichte der ehemaligen KZ-Aufseherin Lisa, die Ende der 1950er Jahre auf einer Schiffsreise nach Brasilien, wo ihr Ehemann Walter seinen neuen Posten als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland antreten soll, in einer mitreisenden Passagierin einen einstigen Auschwitz-Häftling, Marta, zu erkennen glaubt, die sie längst für tot hält. Diese Begegnung ruft in ihr Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager wach. Ihre verdrängte Vergangenheit steigt zunehmend wieder an die Oberfläche. Sie sieht sich in Auschwitz in ihrer alten Rolle als junge KZ-Wärterin. Ihr gegenüber steht Marta, zu der sie eine ganz persönliche Beziehung aufbaut und der sie sogar ein Treffen mit ihrem ebenfalls gefangenen Verlobten Tadeusz – er ist in Weinbergs Oper im Gegensatz zu Frau Posmysz` Roman nicht bildender Künstler, sondern Geiger – ermöglicht, die sie aber am Ende doch in den Todesblock schickt. Wie Marta dem Tod letzten Endes entrinnen konnte, ist ein großes Geheimnis, das unaufgeklärt bleibt. Unter der übermächtigen Last ihres schlechten Gewissens gesteht Lisa ihrem darob entsetzten Mann schließlich alles, wobei auch die Stimmen der Vergangenheit eine ausführliche Rückschau einfordern: Jetzt mögen andere sprechen!  Die Hölle von Auschwitz wird für Lisa zum Inferno ihrer Erinnerungen. Im Folgenden spielen sich die einzelnen Szenen abwechselnd auf dem Ozeandampfer und in Auschwitz ab.

Es ist eine geradezu erschütternde Geschichte, zu deren Zeuge das Publikum hier wird. Weinbergs Passagierin stellt einen stark unter die Haut gehenden, beklemmenden Kontrapunkt gegen das Vergessen dar, ein flammendes Plädoyer gegen jede Art des Verdrängens mit den Mitteln des Musiktheaters. Von diesem bravourösen Werk kann man nur extrem begeistert sein. Das war bereits Dmitry Schostakowitsch klar. Seinem Postulat Ich werde nicht müde, mich für die Oper „Die Passagierin“ von Mieczyslaw Weinberg zu begeistern. Dreimal habe ich sie schon gehört, die Partitur studiert, und jedes Mal verstand ich die Schönheit und Größe dieser Musik besser. Ein in Form und Stil meisterhaft vollendetes Werk und dazu vom Thema her ein höchst aktuelles…Die Musik der Oper erschüttert in ihrer Dramatik. Sie ist prägnant und bildhaft, in ihr gibt es keine einzige `leere`, gleichgültige Note. kann man sich von ganzem Herzen anschließen. Diese begeisterten Worte des Freundes und großen Förderers Weinbergs befinden sich im Vorwort des bei Peermusic erschienenen Klavierauszuges der Passagierin. Bei dieser Oper handelt es sich um etwas ganz und gar Einzigartiges, um ein Werk von erlesenster Güte, ungemein hoher Kraft und Intensität sowie immenser Eindringlichkeit. In gleichem Maße sehr außergewöhnlich ist die Wirkung, die die Passagierin auf die Zuschauer hat. Diese Oper verlässt man anders als andere Werke des Musiktheaters. Man fühlt sich in hohem Maße ergriffen, berührt und sogar beklommen. Die Passagierin erschließt sich dem Auditorium auf einer unterschwelligen, gefühlsmäßigen Basis, die es zunächst kaum spürt, die es dann aber umso stärker packt und in ihren Bann zieht.

© Matthias Stutte

Vollauf gelungen ist die Inszenierung der israelischen Regisseurin Dedi Baron in dem Bühnenbild und den Kostümen von Kirsten Dephoff. Gleich Zofia Posmysz, der Autorin der Romanvorlage, erzählt auch Frau Baron die dramatische Handlung aus der Perspektive der Täterin Lisa. Die in Auschwitz spielenden Szenen werden seitens der Regie als innere Bilder der unter einem starken Trauma leidenden Lisa gedeutet. Im Verlauf des Geschehens läuft immer wieder eine junge Israelin über die Bühne und konfrontiert die Zuschauer mit einer Reihe auf die Hinterwand projizierten Fragen. Diese sind essentiell und betreffen uns alle. Bei dieser jungen Israelin handelt es sich um eine Referenzfigur für die Gegenwart (so Operndirektor Andreas Wendholz im Kontext der Krefelder Aufführung). Welche Bedeutung haben die aufgeworfenen Fragen heute? Sehen die Menschen die Gefahr für die Zukunft? Das muss das Publikum für sich allein beantworten. Laut schreit die Regisseurin ihre Warnung in die Welt, dieselben schlimmen Fehler nicht ein weiteres Mal zu begehen. Staatsformen wie der Nationalsozialismus dürfen sich nie wieder etablieren.

Dabei vermeidet Dedi Baron jede Art von KZ-Realismus. Die ganze Passagierin spielt sich bei ihr auf dem Schiff ab. Dabei lässt sie die unterschiedlichen Zeitebenen von Auschwitz und dem Ozeandampfer gekonnt miteinander verschmelzen. Wenn sich der Vorhang öffnet, sieht man das marode wirkende, von rostigen Wänden und KZ-Duschen eingenommene Sonnendeck des Ozeanriesen. Die Passagiere lassen es sich auf einer Anzahl von Liegen gut gehen. Die gestreiften Handtücher, die sie sich wie Schals um den Hals legen, gemahnen stark an Häftlingskostüme. Die Reisenden auf dem Schiff sind modern gewandet, während die Häftlingsfrauen beige Kleider samt grauem Kittel tragen. Wenn sich letztere zu einem Pulk zusammenfinden und sich sanft aneinanderschmiegen, atmet das hohe Emotionalität. Zunehmend mutiert das männliche und weibliche Schiffspersonal zu SS-Männern und KZ-Aufseherinnen. Das erweist sich bereits in dem Moment mit aller Deutlichkeit, in dem die Stewards, nun deutlich als SS-Leute zu erkennen, durch die Reihen der Schiffspassagiere gehen und ihnen ihre Wertgegenstände abnehmen. Die Reisenden nehmen nun die Funktion von Häftlingen ein, die sich Schilder mit ihren von einer unsichtbaren Stimme aus dem Off aufgerufenen Nummern vor die Brust halten. Im weiteren Verlauf der Handlung erhält dieses Kollektiv noch eine weitere zentrale Relevanz. Zu Beginn des zweiten Aktes ergehen sich die Männer und Frauen zum Walzer des Kommandanten in gemächlichen Tanzschritten. Anschließend werden sie, still dasitzend und mit Puppenmasken ausgestattet, zu stummen Zeugen des Wiedersehens von Marta und Tadeusz. Lisa, für die Weinberg und sein Librettist Medwedjew an dieser Stelle überhaupt keinen Auftritt vorgesehen haben, beobachtet das Paar aus der Ferne. Mit die Spannung steigernden Tschechow` schen Elementen kann die Regisseurin umgehen, das muss man sagen!

© Matthias Stutte

Trotz des bereits oben geschilderten weitestgehenden Verzichts auf die grausame KZ-Realität spart Frau Baron Misshandlungen der KZ-Insassen nicht ganz aus. So werden einige der gefangenen Frauen von den Steward – SS – Männern einmal in einer Zinkwanne untergetaucht. Aus einer Reihe über die gesamte Bühne verteilter herrenloser Schuhe kann man auf die Ermordung ihrer jüdischen Eigentümer schließen. Ein Höchstmaß an Demütigung erreicht Dedi Baron im Konzert – Bild des zweiten Aktes, in dem sie Tadeusz die von ihm anstelle des vom Kommandanten geforderten Walzers gespielte Chaconne in d-Moll von Bach gänzlich nackt zu Gehör bringen lässt. Dieser Einfall der Regie hat hier überhaupt nichts Anstößiges an sich, sondern ergibt durchaus einen Sinn.

Im Großen und Ganzen bezweckt die Regisseurin mit ihrer Interpretation eine Warnung vor dem Vergessen. Die Sehnsucht der Täter nach Vergebung sowie ihr Begehren, von den Traumen der Vergangenheit erlöst zu werden, drängen radikal an die Oberfläche. In diesem Zusammenhang spielt Vergebung eine essentielle Rolle. Vergebung ist nach Ansicht von Frau Baron der einzige Weg, der Schuld zu entkommen. Als sich Lisa und Marta am Ende ein letztes Mal begegnen und sich aus der Ferne anblicken, schimmert tatsächlich für einen kurzen Augenblick der Ansatz einer Versöhnung zwischen den beiden Frauen auf. Ob diese dem ihnen hier aufgezeigten Weg folgen werden, bleibt offen. Dieses starke Bild war etwas an die deutsche Erstaufführung der Passagierin in Karlsruhe von 2013 angelehnt. Auch da stand zum Schluss der Anklang einer Versöhnung zwischen Marta und Lisa im Raum.

Weinbergs Musik ist geradezu atemberaubend. Die Klangsprache des phänomenalen Komponisten gemahnt stark an diejenige von Schostakowitsch. Als Beispiel hierfür sei nur der Walzer des Kommandanten genannt. Anklänge an Britten und Prokoviev vernimmt man ebenfalls. Die Partitur der Passagierin beruht auf einer erweiterten Tonalität und zeichnet sich obendrein durch Elemente der Zwölftonmusik aus. Gleichzeitig ist der Klangteppich aber ausgesprochen schön und oft auch sehr melodiös. In diesem Kontext seien nur die sehnsuchtsvollen Lieder der weiblichen Häftlinge, der Choral sowie das herrliche Liebesduett zwischen Marta und Tadeusz im zweiten Akt  erwähnt. Und für die von Weinberg ins Feld geführte Leitmotivtechnik hat augenscheinlich Richard Wagner Pate gestanden. Die Leitmotive wirken bei der Passagierin im Gegensatz zu Wagner indes nicht direkt, sondern dringen mehr unterschwellig auf den Zuhörer ein. Nichtsdestotrotz bleiben zahlreiche Themen in Erinnerung. Ins Auge fallen hier in erster Linie die zahlreichen Motive aus der Musikgeschichte. Beispiele hierfür sind die bereits oben erwähnte Chaconne aus der Partita Nr. 2 d-Moll von Bach, das Schicksals-Motiv aus Beethovens 5. Symphonie in c-Moll, Schuberts Militärmarsch in D-Dur sowie das Prügel-Motiv aus Wagners Meistersingern. Diese phänomenale Musik geht richtig unter die Haut, besonders wenn sie so intensiv und emotional dargeboten wird wie an diesem Abend von Sebastian Engel und den bestens disponierten Niederrheinischen Sinfonikern. Mit untrüglichem Gespür für die vielfältigen Feinheiten von Weinbergs Musik lotete der Dirigent sämtliche Nuancen der Partitur hervorragend aus. Die Musiker setzten seine Intentionen sehr konzentriert und klangschön um.

© Matthias Stutte

Insgesamt ebenfalls auf hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Leider hatte an diesem Abend am Theater Mönchengladbach der Krankheitsteufel zugeschlagen und gleich zwei der Sängerinnen geholt. So hatte es die Sängerin der Krystina eiskalt erwischt. Diese Partie wurde schließlich von Luisa Sagliano übernommen, die auch als Bronka besetzt war. Beiden Rollen wurde sie mit ihrem perfekt sitzenden Mezzosopran gut gerecht. Eine Erkältung zugezogen hatte sich Eva Maria Günschmann, die sich indes bereit erklärte, dennoch als Lisa aufzutreten. Sie hielt den Abend trotz ihrer Indisposition, deretwegen sie sich ansagen ließ, bestens durch und nahm mit einem vorbildlich fundierten, markant und ausdrucksstark eingesetzten Mezzosopran nachhaltig für sich ein. Begeisterungsstürme bei Auditorium löste Sofia Poulopoulou aus, die sich mit enormem Elan in die Partie der Marta stürzte. Sowohl darstellerisch wie auch gesanglich entsprach sie ihrem Part voll und ganz. Schon ihr intensives Spiel war beeindruckend. Und gesanglich gehört ihr wunderbarer, prachtvoll italienisch fokussierter und gefühlvoller Sopran mit zum Besten, was man in dieser Rolle bisher gehört hat. Bravo! Ebenmäßig ließ Rafael Bruck als Tadeusz seinen voll und rund klingenden Bariton dahinfließen. Für seinen Mut zur gänzlichen Nacktheit auf der Bühne ist ihm ein großes Lob auszusprechen. Mit hellem, maskig klingendem Tenorklang stattete Jan Kristof Schliep den Walter aus. Gefällig schnitten die tadellos singenden Sophie Witte (Yvette), Antonia Busse (Katja), Gabriela Kuhn (Vlasta) und Bettina Schaeffer (Hannah) ab. Von den drei SS-Männern gefielen die über schöne sonore Stimmen verfügenden Bässe Jeconiah Retulla und Matthias Wippich besser als der überhaupt nicht im Körper singende Tenor Arthur Meunier. Einen stimmlich profunden Älteren Passagier gab Hayk Deinyan. Über die für diesen Charakter nötige Tiefe verfügte er indes nicht. Die bis zum tiefen g hinuntergehenden Passagen transponierte er einfach um eine Oktave nach oben. In den Sprechrollen des Stewards sowie der Oberaufseherin und der Kapo überzeugten Markus Heinrich und Birgitta Henze. Als junge Israelin war Smilla Kaspers zu erleben. Großartig klang der von Michael Preiser einstudierte Opernchor des Theaters Krefeld und Mönchengladbach.

Im Großen und Ganzen haben wir es hier mit einer grandiosen, innovativen und eindringlichen Produktion zu tun, deren Besuch dringendst zu empfehlen ist. Und dass sogar ein kleineres Theater wie das in Mönchengladbach die Passagierin derart hochkarätig auf die Bühne bringen kann, ist schlichtweg sensationell. Zwar wurde innerhalb der Partitur etwas zu oft der Rotstift angesetzt, was schon schmerzlich war. Als Grund wurde im Zusammenhang mit der Krefelder Aufführung dieser Inszenierung letzte Saison ang-egeben, dass man mit diesen Kürzungen eine stärkere Konzentration auf die beiden Paare Lisa und Walter, Marta und Tadeusz erreichen wollte. An der Brillanz dieser Vorstellung vermochten die Striche aber nichts zu ändern.

© Matthias Stutte

Der Eindruck war trotz allem gewaltig. Man merkte wieder einmal: Es ist unmöglich, von der Passagierin nicht in hohem Maße, extrem und zutiefst ergriffen zu werden und dieses absolute Juwel ihrer Gattung nicht mit totaler Begeisterung in sich aufzusaugen. Man ist total gefesselt von ihr! Das war auch bei der Mönchengladbacher Aufführung deutlich zu konstatieren. Demgemäß scheint es nicht weiter verwunderlich, dass sich Weinbergs absolut geniale Oper in den vergangenen Jahren immer mehr auf den deutschsprachigen Bühnen durchgesetzt hat. Es ist zu hoffen, dass auch andere Opernhäuser auf die Passagierin aufmerksam werden und sie auf den Spielplan setzen.

Fazit: Liebe Leser, fahrt nach Mönchengladbach und seht euch diese Passagierin an. Ihr werdet es nicht bereuen, das verspreche ich euch. Also reingehen, reingehen und nochmal reingehen!

Ludwig Steinbach, 2. November 2025


Die Passagierin
Mieczyslaw Weinberg
Theater Mönchengladbach

Premiere in Mönchengladbach: 18. Oktober 2025
Besuchte Aufführung: 1. November 2025

Inszenierung: Dedi Baron
Musikalische Leitung: Sebastian Engel
Niederrheinische Sinfoniker