Premiere am 28.4.18 – Deutsche szenische Erstaufführung der vieraktigen Fassung
Bonnie & Clyde im Drogenrausch
Lieber Opernfreund-Freund,
Puccinis erste abendfüllende Oper „Edgar“ führt neben seinen Erfolgen „Tosca“, „La Bohéme“ und „Madame Butterfly“ ein Schattendasein – ja weniger noch. Im Gegensatz zu seiner „Fanciulla del West“, die es wie sein Erstling „Le Villi“ zumindest alle Jubeljahre einmal auf die Opernbühne schafft, wird sein „Edgar“ gänzlich ignoriert. Umso sensationeller ist es, dass man in Regensburg seit gestern die vieraktige Urfassung des Werkes erstmals überhaupt auf einer deutschen Bühne sehen kann (in Dortmund hatte man vor zwei Jahren lediglich eine konzertante Version präsentiert). Schon bei seiner Uraufführung war dieser „Schinken“ ein Misserfolg, was den Luccheser Komponisten dazu bewegte, mehrfach Umarbeitungen vorzunehmen, bis er den vierten Akt gänzlich strich – und so auch Handlung, Schwerpunkt und Aussage des Stücks veränderte. Die Partitur zum vierten Akt verschwand in der Versenkung und tauchte erst vor wenigen Jahren in den Unterlagen seiner Enkelin wieder auf.
Um das Jahr 1300 in Flandern angesiedelt, behandelt „Edgar“ eine klassische Vierecksgeschichte. Die brave Fidelia und Edgar lieben sich, doch Edgar will der kleinbürgerlichen Welt entkommen und bandelt deshalb mit Tigrana an, einer Außenseiterin, die als Findelkind von der Dorfgemeinschaft großgezogen worden war. Die wiederum wird von Frank, Fidelias Bruder, verehrt, doch sie flieht zusammen mit Edgar, nachdem der Frank in einem Duell verwundet hat. Bald jedoch ist er des ausschweifenden Lebens mit der fordernden Tigrana überdrüssig, sehnt sich nach dem beschaulichen Dasein mit Fidelia zurück. Als Soldaten unter der Führung von Frank vorbeikommen, schließt er sich ihnen an, nachdem er Frank gegenüber seine Reue bekundet hat. Um Fidelias Liebe zu prüfen, täuschen die beiden Männer Edgars Tod vor; Fidelia trauert am Sarg, in dem angeblich Edgar liegt, und verteidigt ihn gegen die Anfeindungen seitens der Dorfbewohner, doch Tigrana lässt sich vom als Mönch verkleideten Edgar dazu bestechen, den Toten zu verhöhnen. Da legt Edgar seine Verkleidung ab. In der dreiaktigen Fassung fällt ihm die überglückliche Fidelia um den Hals, wird von Tigrana erstochen und stirbt in seinen Armen. In der nun präsentierten vieraktigen Version entfernt sich Fidelia vor der Enttarnung des Mönchs und glaubt zuhause noch immer, dass Edgar tot ist. Der erscheint zusammen mit Frank, bittet sie um Verzeihung und darum, seine Frau zu werden. Vor der Hochzeit ersticht Tigrana allerdings die Rivalin, Edgar kann nur noch deren Leichnam beklagen. Frank hält ihn davor zurück, Tigrana umzubringen, stattdessen wird die Mörderin zum Richtplatz geführt.
Eigentlich muss man sagen, dann in Regensburg ändert Regisseur Hendrik Müller die Handlung in mehreren Gesichtspunkten, so dass die Chance vertan wird, bei dieser deutschen Erstaufführung eines Puccini-Werkes das zu zeigen, was Puccini und sein Librettist Ferdinando Fontana sich ursprünglich ausgedacht hatten. In die USA der 50er Jahre verlegt Müller die Handlung, zeigt Tigrana nicht nur als Außenseiterin der Gemeinschaft, sondern als Barbetreiberin und Dealerin – die also quasi alles liefert, was der unzufriedene Edgar sich erträumt. Dabei helfen ihm die gelungenen Videoeinspielungen, die Michael Lindner produziert hat, und die Innenwelt und Parallelhandlung gekonnt verdeutlichen, wenn sie auf die kargen Zinkwände der Kulisse projiziert werden. Die Drehbühne von Marc Weeger, der auch für die tollen Kostüme verantwortlich zeichnet und beispielsweise dadurch Lokal- und Zeitkolorit auch jenseits des Wildwest-Klischees schafft, dass er im zweiten Akt die Damen des Chores als Marilyn-Monroe-Doubles in gelbe Paillettenkleidchen steckt, zeigt einen tristen amerikanischen Straßenzug samt rund um die Uhr geöffneter Bar, die Tigrana betreibt. Tigrana und Edgar erinnern zwar in ihrem extatischen Trip aus Alkohol, Drogen, Kriminalität und Lust wie eine Opernausgabe von Bonnie & Clyde, doch dieser Ansatz passt hervorragend. Müllers Personenführung ist spannungsreich und haucht der konstruierten Story gekonnt Leben ein. Dass er Fidelia als unehelich schwanger Gewordene zeigt, verschärft die Situation. Im letzten Akt – dem zuvor in Deutschland nie gezeigten – lässt er sie sich die Wiedervereinigung mit Edgar allerdings nur im Wahn erträumen. Fast überflüssig zu erwähnen ist, dass sie das Kind verloren hat, der Mord durch Tigrana erscheint beinahe wie ein Unfall und auch das Finale steht so nicht im Libretto Fontanas. Das ist schade, setzt aber den Veränderungsprozess, den Puccini selbst dem Werk immer wieder hat angedeihen lassen, konsequent fort. So wird zumindest nun ein anderes deutsches Haus damit werben können, den vieraktigen „Edgar“ erstmals so zu zeigen, wie Puccini es sich ursprünglich gedacht hatte.
Denn auch musikalisch hapert es mit der Vollständigkeit. Umfangreiche Kürzungen hat man in Regensburg vorgenommen, das an sich dreistündige Werk auf gut zwei Stunden Musik zusammengestrichen. Das tut ihm allerdings gut, denn gerade die erste Hälfte des Abends ist doch eine rechte Aneinanderreihung von verschiedenen Versatzstücken. Puccini versucht sich erstmals an großer Oper mit ausufernden und später von ihm nie mehr gezeigten Chorszenen, die sehr an den Stil Verdis geheftet sind. „Edgar“ hat in der ersten Hälfte noch viel von einer klassischen Nummernoper, auch wenn Teile schon den eigenen Stil Puccinis, seine eigene Harmonik andeuten. In dem grandiosen dritten Akt und auch in den Finalszenen läuft er dann schon zu Höchstform auf, da sind ihm die gelungensten, musikalisch rundesten Passagen aus der Feder geflossen. Das Finalduett von Fidelia und Edgar beispielsweise hat ihm offensichtlich selbst so gut gefallen, dass er es in seiner „Tosca“ noch einmal verwendet hat. Die musikalische Umsetzung hat man in die Hände von Tetsuro Ban gelegt, der bis zur vergangenen Spielzeit GMD in Regensburg war – und das war eine gute Entscheidung, denn es ist durchaus hörbar, wie gut sich Dirigent und Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Orchesters Regensburg kennen, während sie sich der noch nicht vollends ausgefeilte Partitur widmen. Da wogt und schwelgt es schon in bester Puccini-Manier, da gelingen die wuchtigen Chorszenen ebenso wie die zarten, intimen Momente in ganz wunderbarer Weise. Der Japaner kann sich dabei aber auch auf eine beinahe durchgängig exzellente Sängerriege verlassen.
Chefinnen im Ring sind gestern eindeutig die beiden Damen, die auch stimmlich unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Fidelia von Anikó Bakonyi ist dermaßen von Zartheit durchdrungen, dass man gar nicht genug bekommen kann von ihrem eindrucksvollen Gesang, ihren endlos erscheinenden Pianobögen und ihrem immensen Ausdruck. Und auch die Tigrana – Puccinis einzige wirklich große Mezzopartie – von Vera Egorova-Schönhöfer zeichnet sich vor allem durch eine starke Expressivität und eine umwerfende Bühnenpräsenz aus, so intensiv gestaltet das Ensemblemitglied diese Mischung aus Vollweib, gebrochener Gestalt und geldgeiler Intrigantin im Amy-Winehouse-Look. Ihren satten Mezzo kann sie dabei in allen Facetten zeigen. Deren weniger – genau genommen im Wesentlichen nur eine – lässt am gestrigen Abend der aus China stammende Yinjia Gong hören, so schamlos, ja undifferenziert, trägt er in der Titelrolle seine stimmliche Potenz zur Schau. Sicher sind die bombensichere Höhe, der nicht enden wollende Atem und die kraftvollen Spitzentöne eindrucksvoll, nuancierter Gesang sieht allerdings anders aus und lässt sich nicht durch ein paar (vielleicht zu viele) ins Dauerforte eingestreute Schluchzer kompensieren. Dass der Tenor ganz anders kann, zeigt er glücklicherweise im letzten Akt, in dem er seinen Part, der ja nur noch in Fidelias Kopf stattfindet, vom Balkon singt. Da gelingen auch ihm traumhafte Passagen voller Gefühl und jenseits der puren Kraft. Das versöhnt mich dann auch ein wenig. Seymur Karimov als Frank hingegen ist eine Wucht, stimmlich auf den Punkt, satt und farbenreich präsentiert er seinen vollen Bariton, weckt und transportiert Gefühl und spielt dazu noch überzeugend. Stimmlich bravourös komplettiert Mario Klein das Ensemble im recht kurzen Part des Vater Gualtiero, ist aber von der Regie in den Rollstuhl verbannt und darf deshalb darstellerisch nur ein paar opernhafte Armgesten zeigen.
Keine Maus passt mehr ins Theater am Bismarckplatz am gestrigen Abend. Und alle Zuschauer sind begeistert von dieser Erstaufführung, den Solisten, dem Orchester und dem umfangreich spielenden und singenden Chor samt Cantemus-Kinderchor. Alistair Lilley und Sibylle Wagner haben die Sängerinnen und Sänger – die vielleicht heimlichen Stars des Abends – genau auf ihre umfangreiche Aufgabe vorbereitet und so wird die nicht ganz ausgewogene Komposition dann doch vollkommen rund präsentiert und entsprechend bejubelt. Und auch ich bin voll des Lobes für diese Produktion – auch wenn ich mir für eine Erstaufführung dann doch eine librettotreuere Umsetzung gewünscht hätte.
Ihr Jochen Rüth / 29.4.18
Die Fotos stammen von Jochen Quast.