Besuchte Aufführung: 12. 3. 2014 (Premiere: 7. 12. 2013)
Fest der Stimmen
Es ist eine beeindruckende Gratwanderung, die dem jungen Wiener Regisseur Johannes Pölzgutter mit seiner Inszenierung von Puccinis „La Bohème“ am Theater Regensburg gelungen ist. Seine Deutung hält für jeden Geschmack etwas bereit, vereint in sich sowohl konventionelle als auch moderne Elemente. Er verfälscht das Stück nicht, interpretiert es aber gleichwohl gekonnt. Er setzt in erster Linie auf die Herausstellung der starken Emotionen der von Janina Ammon ansprechend kostümierten Handlungsträger und ihrer Beziehungen zueinander. Rührseligkeit und Herzschmerz sind angesagt, wobei die Grenze zum Kitsch Gott sei Dank nie überschritten wird, was gerade bei diesem Werk nicht selbstverständlich ist.
Viktorija Kaminskaite (Mimi)
Dazu trägt auch das teilweise sehr nüchterne Bühnenbild von Nikolaus Webern einen guten Teil bei. Die Bohémiens hausen in einem kargen grauen Raum, dessen Wände gänzlich mit den Manuskriptseiten von Rodolfos Drama behängt sind. Auf der rechten Seite befindet sich ein alter Ofen mit Heizungsrohr, im linken Bereich hat Shaunard seinen Kontrabass abgestellt. Zum Sitzen dient den Bewohnern eine einfache Lederbank. Romantischem Mansardenzauber wird hier eine klare Absage erteilt und das Ganze auch von seinem äußeren Erscheinungsbild her der Kärglichkeit der Lebensverhältnisse der Protagonisten angeglichen. Auch im Weihnachtsbild verzichten Regisseur und Bühnenbildner weitgehend auf Festschmuck. Lediglich am Bühnenhimmel prangt eine Lichterkette, die im folgenden Bild dann erloschen ist. Dafür regnen Rodolfos auf Papier gebannte dichterische Ergüsse vom Himmel und es setzt Schneetreiben ein. Parpignol präsentiert der Menschenmasse vor dem Café Momus eine ganze Pyramide von Geschenkkartons, die indes auch bei anderen Festen ihren Dienst tun würden. Speziell weihnachtlich sind sie nicht geschmückt. Die Armut der Bohémiens findet auf diese Weise einen von jeder herkömmlichen Konvention befreiten und stimmigen Ausdruck.
Matthias Wölbitsch (Shaunard), Anna Pisareva (Musetta), Colline
Auch der geistige Gehalt, den Pölzgutter seiner Deutung angedeihen lässt, überzeugt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist ein von Rodolfo gegenüber Mimi geäußerter Satz, der ins Deutsche übersetzt lautet: „Du bist der Traum, den ich immer träumen wollte“. Diese Aussage macht deutlich, dass er in ihr weniger eine reale Person als vielmehr eine Projektionsfläche sieht. Feuerbach lässt grüssen. Rodolfo hat sich ein Bild von dem Prinzip Frau geschaffen, in das Mimi auf den ersten Blick genau hineinzupassen scheint. Aber nur auf den ersten. Im Lauf des Stücks erweist sich in immer stärkerem Maße, dass der Dichter mit dieser reichlich selbstbewussten, anpassungswilligen und selbstreflektierenden Frau, die ihm alles recht machen will, letztlich doch nichts anfangen kann, mag die Liebe zwischen den beiden auch durchaus aufrichtig und echt sein. Das Traumbild lässt sich eben nicht auf das wirkliche Leben übertragen, schon gar nicht, wenn es krank ist. Derartiges passt einfach nicht in seine Vorstellungswelt. Auf einer psychologischen Schiene versucht Rodolfo seinen Wunsch, von Mimi wieder loszukommen, zu rationalisieren, stellt sie sich untreu und verworfen, praktisch als Hure vor. Die Frau erweist sich für ihn nicht als ideal. Damit zerstört er auch seine Vision. Mit Mimis auf dem kalten Boden – ein Bett benötigt der Regisseur nicht – erfolgtem Tod geht auch die Projektionsfläche zugrunde. Rodolfos Vision von Mimi ist ausgeträumt.
Viktorija Kaminskaite (Mimi), Yinjia Gong (Rodolfo), Mario Klein (Colline), Matthias Wölbitsch (Shaunard)
Gesanglich kann man wahrlich von einem Fest sprechen. Durch die Bank bis zu den kleinsten Nebenrollen wurde schön im Körper gesungen, was selbst an den größten Häusern eine Seltenheit darstellt und beredtes Zeugnis von dem ausgezeichneten Niveau des Regensburger Sängerensembles ablegt. Als Mimi glänzte Viktorija Kaminskaite, die mit berührendem Spiel und einem wunderbar innig und emotional geführten Sopran italienischer Schulung sich die Herzen der Zuschauer im Sturm eroberte. Fast noch übertroffen wurde sie von Yinjia Gong, der einen prachtvollen Rodolfo sang. Mit seinem ebenfalls bestens italienisch focussierten, frischen und klangvollen Tenor zog er sämtliche Facetten des Dichters, wobei er es auch an Differenzierungen und feinen Nuancen nicht fehlen ließ. Darstellerisch wurde er seinem Part ebenfalls voll gerecht. Für den erkrankten Seymur Karimov in der Rolle des Marcello eingesprungen war Oleksandr Prytolyuk. Der kurzfristig vom Staatstheater Darmstadt herbeigeeilte Sänger fand sich in der Inszenierung gut zurecht und vermochte insbesondere mit seinem gut gestützten, ausdrucksstarken Bariton einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. In der Musetta von Anna Pisareva, die in dieser Produktion alternierend auch als Mimi besetzt ist, hatte er eine vortreffliche Partnerin. Kokett und aufgedreht spielend entsprach sie schon vom Schauspielerischen her ihrer Partie voll und ganz. Aber auch vokal blieben bei ihrem gut verankerten, variabel geführten Sopran keine Wünsche offen. Das „Quando m’en vo“ sang sie wunderbar auf Linie und kam auch mit den mehr parlandomäßigen Stellen bestens zurecht. Einen guten Tag hatte Mario Klein, der einen markanten Colline gab. Über vielversprechende baritonale Anlagen verfügte der Schaunard des noch recht jugendlich wirkenden Matthias Wölbitsch. In gleich zwei Rollen war Tobias Hänschke zu erleben. Sowohl aus dem Benoit als auch aus dem Alcindoro machte er dankenswerter Weise keine Karikaturen, sondern gab ihnen mit rundem Stimmklang durchaus ernste Profile. Mit erheblich mehr vorbildlich fundierter Stimmkraft als man es bei dieser Mini-Partie sonst geboten bekommt, stattete Matthias Ziegler den Parpignol aus. Der solide Sergeant von Mikhail Kuldyaev rundete das homogene Ensemble ab. Auch der von Alistair Lilley einstudierte Chor vermochte für sich einzunehmen.
Mimi, Yinjia Gong (Rodolfo)
Bei GMD Tetsuro Ban war Puccinis Oper in bewährten Händen. Er animierte das bestens disponierte Philharmonische Orchester Regensburg zu einer intensiven, vielschichtig anmutenden Tongebung, wobei er entsprechend den Intentionen der Regie nicht nur auf gefühlvolles Schwelgen in der herrlichen Musik setzte, sondern schon auch mal mehr analytische Aspekte in sein gelungenes Dirigat einfließen ließ. Den Sängern war er ein einfühlsamer Partner.
Fazit: Ein in jeder Beziehung empfehlenswerter Abend.
Ludwig Steinbach, 13. 3. 2014
Die Bilder stammen von Martin Sigmund