Vorstellung am 15.03.2018
Beethovens einzige Oper FIDELIO ist ein Werk, bei dem das Ohr den fast unmöglichen Spagat vollziehen muss mehr der Musik als dem Text zu lauschen. Denn der Text in seiner holprigen Biederkeit ist für heutige Ohren unerträglich, das gilt in erster Linie natürlich für die gesprochenen Dialoge, setzt sich aber auch in den Arien und Ensembles fort. Einige Regisseure (so z.B. Andreas Homoki am Opernhaus Zürich) haben die gesprochenen Dialoge deshalb ganz gestrichen, was aber insgesamt dem Werk auch nicht viel weiterhilft, da die Texte in den musikalischen Nummern natürlich verbleiben müssen. So bleibt dem Zuhörer also nur die schwierige Aufgabe, über weite Strecken von Zweikanal-Empfang (Text, Musik) auf Einkanal-Empfang (nur musikalische Struktur) zu schalten. Immerhin unterstützt die Inszenierung von Jan Schmidt-Garre, die nun in St.Gallen zum 50 Jahr Jubiläum des Sichtbetonbaus des Theaters am Stadtpark gezeigt wird, diese anspruchsvolle Aufgabe für den Zuschauer. Zwar belässt Schmidt-Garre die erste singspielhaft-betuliche Nummer (Duett Marzelline-Jaquino) in der Oper, streicht jedoch die oft geschmähte Goldarie Roccos (Beethoven hatte sie für seine zweite Fassung ebenfalls gestrichen, sie in der Endfassung jedoch später mal wieder eingefügt), ansonsten jedoch verzichtet der Regisseur auf jeglichen Aktionismus, auf konkrete Visualisierung der Handlung; er überhöht sie von Beginn weg ins utopisch Ideelle, spürt dabei den inhärenten, gesellschaftlich und politisch relevanten Revolutionsaspekten des Werks nach.
Dabei umgeht er sehr geschickt die Travestie, bei ihm erscheint Leonore von Beginn weg als Frau, losgelöst von allen anderen Mitwirkenden. Eine moderne Frau, die quasi als roter Engel ihre Werte in die in Zwängen (Mäntel) gefangenen Unterdrückten des Ancien Régime trägt, eine Saat keimen lässt, welche am Ende diese Charaktere zu (wiederum uniformen) modernen Menschen macht. Einzig der arg gebeutelte Pizarro verharrt in seinem vorrevolutionären Outfit (Kostüme: Yan Tax). Leonore wird also von Beginn weg wortwörtlich auf einen Sockel gestellt, ein Denkmal und Sinnbild für die emanzipierte Frau, die Erlöserin (von der Florestan in seiner grossen Szene träumt). Damit umgeht Schmidt-Garre jegliche Travestie, die Gefahr des Umschlagens in eine Verkleidungs-Boulevard Komödie. Natürlich entsteht durch diese Konstellation der Nichtverkleidung Leonores als Fidelio (der Titel macht nun eigentlich keinen Sinn mehr, man müsste die Oper wieder LEONORE nennen, wie Beethoven dies auch für seine Zweitfassung tat) ein weiteres Problem: Wie erklärt man die Faszination Marzellines mit dieser Frau? Ist es eine ideelle, eine emanzipatorische Anziehungskraft, oder spielt auch die Entdeckung gleichgeschlechtlichen Verführens und Verlangens eine Rolle? Zumindest der zarte Kuss zwischen Leonore und Marzelline im Schlussbild lässt dies erahnen. Durch den Verzicht auf die Verkleidung und das ständige Verharren Leonores auf dem Sockel des eigenen Denkmals bleibt diese Leonore eine nicht fassbare, eben engelhafte Gestalt, ist wie aus dem eigentlichen Drama ausgeblendet, in das sie selten wirklich eingreift, nicht einmal als Marzelline von den Gefangenen missbraucht wird. So wirkt der Abend über weite Strecken fast oratorienhaft statisch, eine nachvollziehbare Interaktion findet selten statt, einiges an der Dramaturgie des Ablaufs wirkt irgendwie unfertig, bruchstückhaft – aber eben mit dem grossen Vorteil, dass man sich ganz auf die wunderbare Musik Beethovens konzentrieren und sich vom Biedermeier des Textes lösen kann.
Es ist ein erstaunlich „schlanker“ Beethoven-Klang der da aus dem Graben steigt und sich auf der Bühne fortsetzt. Otto Tausk und das Sinfonieorchester St.Gallen musizieren mit grösster Sorgfalt, stimmig gewählten, nicht überhasteten Tempi und subtil abgestimmter Dynamik. Nicht nur in der traditionellen Fidelio Ouvertüre können die Musiker des Orchesters ihre Kunst beweisen, auch in der Leonoren Ouvertüre Nr. 3, welche zwischen Kerkerszene und Schlussbild eingefügt wurde. Diese auf Gustav Mahler zurückgehende Tradition des Einfügens von Leonore 3 macht insofern Sinn, als nach dem Duett O namenlose Freude und dem etwas undramaturgisch statisch gehaltenen Festtableau zum Schluss durch die Leonore 3 eine Art Rückblick und Apotheose musikalisch vollzogen wird. Allerdings ist dieses Einfügen von Leonore 3 zu Beethovens Lebzeiten nie gemacht worden. Insofern ist es nicht ganz konsequent vom verantwortlichen künstlerischen Team, dass man sich beim Streichen von Roccos Goldarie dann wieder auf Beethovens Intentionen beruft. Das Vorgehen zeigt jedoch, dass Beethovens FIDELIO durchaus als „work in progress“ aufgefasst werden kann.
Das behutsame Musizieren darf man auch mit Fug und Recht den Interpreten auf der Bühne attestieren. Jacquelyn Wagner geht die Partie der Leonore mit einfühlsamer Zurückhaltung an, überzeugt mit ausdrucksvoller Tiefe und wunderschön gerundeter Höhe, weiss an der richtigen Stelle ihren sauber zentrierten Sopran aufblühen zu lassen. Herrlich das Ansetzen der Töne im mezzo-piano bei der Stelle „so leuchtet mir ein Farbenbogen“ und das Einschwenken in ihre grosse Arie danach mit der bewegendenen, strahlenden Steigerung zu „die Liebe wird’s erreichen“. Am ergreifendsten aber gestaltet Frau Wagner das „O Gott – welch ein Augenblick“ im Schlussbild, das habe ich noch selten so sauber, so fein, so berührend gehört. Norbert Ernst singt den Florestan mit grandioser Einfühlsamkeit, ohne übertriebene Dramatik oder (hörbare) Kraftanstrengung, ja beinahe schlicht, aber immer ehrlich im Ausdruck, überzeugt mit seiner ausgezeichnet sitzenden, schön und hell timbrierten Stimme, mit einer Leichtigkeit des Ansatzes, welche manchem Heldentenor in dieser Rolle abgeht. Als Pizarro konnte man Roman Trekel von der Staatsoper Berlin gewinnen. Seinem sauber geführten Bariton mag es für den Bösewicht etwas an durchschlagender Kraft und Schwärze in der Tiefe fehlen, doch macht er dies mit einer sublimen, ja schon beinahe diabolischen Textgestaltung mehr als wett. Sein Zorn, seine Wut, die er nur mit äusserster Anstrengung im Zaume halten kann, sind von atemberaubender Intensität.
Im Schlussbild ist er ein gebrochener Mann (der in der Kerkerszene von Florestan und Leonore beinahe zu Tode getrampelt wurde), verharrt als einziger auf der Bühne in der alten Uniform des Ancien Régime. Ganz hervorragend gestaltet Wojtek Gierlach den Rocco, begeistert mit einer unforcierten Sonorität in der Tiefe (und man bedauert, dass ihm das Paradestück der Goldarie vorenthalten wurde!). Tatjana Schneider gibt die Marzelline mit sehr sanfter und ausgesprochen mädchenhafter, heller Sopranstimme. Sie ist eine der wenigen Figuren in dieser Inszenierung, die vom Regisseur überzeugendes Profil erhalten. Zu Jaquino hingegen schien Regisseur Schmidt-Garre nicht allzu viel eingefallen zu sein. Riccardo Botta jedoch holt stimmlich das Maximum aus der eher undankbaren Partie heraus. Einen überragenden Auftritt legt (einmal mehr) Martin Summer als Don Fernando hin: Ihn scheint man in jeder (noch so kleinen) Basspartie einsetzen zu können – das Ergebnis ist jedes Mal überwältigend. Michael Vogel hat insbesondere den Männerchor gut auf die Aufgabe vorbereitet, der Gefangenenchor aus FIDELIO ist ja auch ein wunderbares und dankbares Stück Musik, welches durch die beiden solistisch hervortretenden Gefangenen Marc Haag und Frank Uhlig noch zusätzlich an Eindringlichkeit gewinnt.
Im Schlussbild verharrt der Chor lange hinter einer der mobilen Wände (das schlichte, aber in seiner Geradlinigkeit sehr stringente Bühnenbild stammt von Nikolaus Webern), bevor er dann sichtbar wird, zusammen mit dem grün belaubten Baum der Hoffnung auf eine bessere Welt, ein Hoffnung, die wahrscheinlich nie erfüllt werden wird, auch wenn Leonore nun ihren Denkmalssockel nicht mehr braucht, er ist im Bühnenboden eingeebnet, aber noch sichtbar – wahrscheinlich muss er bald wieder für einen neuen utopischen Erlöser oder eine Erlöserin hochgefahren werden.
Fazit: Intelligente Grundidee, die noch etwas unfertig wirkt, aber dem Zuschauer die Konzentration auf den übergeordneten, ideellen Charakter des Werks ermöglicht. Wunderbar unheroisches, mit feinem und gut aufeinander abgestimmtem Pinselstrich gestaltetes Musizieren.
Anmerkung: Vor 50 Jahren sang in St.Gallen übrigens keine Geringere als Inge Borkh die Leonore!!!
Bilder (c) Toni Suter / T & T Fotografie