St. Gallen: „Rent“, Jonathan Larson

Die Aufführung von Rent am Theater St. Gallen ist ein mitreißendes und vor allem bewegendes und eben auch zu Herzen gehendes Ereignis, das ist Musiktheater mit beeindruckender Relevanz, ein Plädoyer für Empathie, Menschlichkeit und vor allem für die Liebe in all ihren Ausprägungen. Obwohl das zentrale Thema, um welches Rent kreist, die Aids/HIV Pandemie der 80er und 90er Jahre ist, bleiben die Kernaussagen auch für die heutige Generation relevant, geht es doch um den Umgang mit Kranken, mit Randständigen und mit Menschen, deren Lebensentwürfe und Partnerwahlen sich nicht dem heteronormativen Anspruch angleichen können und das auch nicht wollen. Dieses Plädoyer wird in St. Gallen vom herausragenden Ensemble auf der Bühne mit derart grandioser Einfühlsamkeit in die diversen Charaktere umgesetzt, dass ich am Ende regelrecht vor Rührung geschüttelt wurde.

© Edyta Dufay

Über die Verwandtschaft von Rent und Puccinis 100 Jahre zuvor entstandener Oper La Bohème kann man bei meinen untenstehenden Erläuterungen zum Werk mehr nachlesen. Frappant für mich war, dass uns Jonathan Larson in seinem Musical die Charaktere noch näherbringt als Puccini und seine Librettisten. Klar, die Musik ist weniger gefühlsbetont als beim genau kalkulierenden Puccini (wäre ja auch lächerlich, wenn man das Meisterwerk des Italieners kopierte). Larson weicht glücklicherweise nicht auf Soft- oder Kuschelrock aus, sondern bleibt quasi durchgehend im harten Rockbereich, mit Einsprengseln (mal ein Tango, etwas Souliges, Jazziges oder Songhaftes). Das ist oft laut, manchmal schrill, entspricht jedoch genau dem dargestellten Lebensgefühl dieser jungen Menschen und Künstler, die aufgerieben werden zwischen Armut, Krankheit und Gentrifizierung (ihr verfallenes Industrieloft, wo sie gratis mit ihrer WG wohnen konnten, soll in einen Schickimicki – Wohn-Kunst-Komplex umgebaut werden).

Dass man da die Wut und die existenziellen Ängste auch mal rausschreien muss, ist verständlich. Ja, es wird laut, sehr laut, aber nie zu laut. Natürlich ist das Dauerforte der Stimmen anstrengend für die Hörer und bestimmt auch für die Ausführenden. Doch einmal mehr ist in St. Gallen die Tontechnik so exzellent austariert, dass man nicht um sein Gehör fürchten muss. Da ist nichts übersteuert und der Mix der Stimmen auf der Bühne mit der Band im Graben gelingt mit herausragender Transparenz des Klangs. Großer Dank also an Nicolai Gütter-Graf und Peter Szabo für den Ton. Im Graben trumpft die Rent-Band, bestehend aus zwei Musikern an Keyboards, vier Gitarristen, einem Bassisten und zwei Schlagzeugern unter der Leitung von Christoph Bönecker am Keyboard I mit bestechender, rhythmisch mitreißender Präzision auf. 

© Edyta Dufay

Pralles Leben wird diesen Bohemiens natürlich von dem Darstellern auf der Bühne eingehaucht, die allesamt überragend sind: Naomi Simmonds, welche die Drogenabhängige, HIV-positive Mimi trotzig und fragil zugleich darstellt, singt mit wunderbar soulig klingender Stimme. Dominik Hees verleiht dem Ex-Junkie Roger eindringliches Profil: Er ist auf der Suche nach dem ganz großen Song, auf seiner Gitarre findet er immer wieder zu den Griffen, welche Quando m’en vo‘ (den Walzer Musettas aus LA BOHÈME) anklingen lassen. Den fertigen Song singt er dann erst – und so berührend – als nach all den Konflikten, welche die beiden mit aller Vehemenz in ihrer Beziehung auszutragen haben, Mimi todkrank von den Freunden aus dem Park in die WG geschleppt wird. Eindringlich gestaltet Naomi Simmonds das qualvolle Nahtoderlebnis Mimis, das Licht, das den tote Angel umgibt, der sie ins Leben zurückschickt. Angel, diese Drag Queen voller Empathie und Liebe für die Mitmenschen, wird von Gonzalo Campos Lopez überaus anrührend gestaltet, sowohl im Fummel als auch ungeschminkt.

Nur schon das Kennenlernen von ihm mit dem wegen seines aufmüpfigen und obrigkeitskritischen Verhaltens entlassenen Philosophie-Professors Tom Collins (Colline in der Bohème) ist von wunderbarer, zutiefst menschlicher Poesie geprägt. Daniel Dodd-Ellis ist dieser feinfühlige Philosoph, der von einer Gang mit Baseballschlägern zusammengehauen wird, dem sein geliebter Mantel geklaut wird und der von Angel so liebevoll umsorgt wird. Genauso liebevoll geht Collins bei der Sterbebegleitung mit Angel um. Das rührt zu Tränen, wenn Angel ihm sein ausbrechendes Kaposi-Sarkom (damals ein eindeutiges Symptom dafür, dass die Krankheit AIDS voranschreitet und der Tod nah ist) zeigt, Collins sich zu Angel ins Krankenhausbett legt und ihn in den Armen hält. Konterkariert wird diese Liebe der beiden von den Streitereien Mimis mit Roger und Maureens mit Joanne. Diese on-and-off Beziehung zwischen der bisexuellen Aktivistin und Performance-Künstlerin Maureen und der lesbischen Anwältin Joanne wird vom Regisseur Matthew Wild mit grosser Prallheit und Eindringlichkeit gezeichnet und von Jeannine Michele Wacker als Maureen und Kerry Jean als Joanne mit wunderbarer Direktheit umgesetzt. Eine grossartige Show liefert Jeannine Michele Wacker mit ihrem aktivistischen Auftritt und ihrem Outfit (Stola aus Kuheutern und Leggins im Stil einer Holsteiner Kuh). Kerry Jean beeindruckt mit ihrem riesigen Stimmunfang, ihrer Mimik und dem genauen Spiel.

© Edyta Dufay

Zwischen diesen drei Paaren steht Mark Cohen, der Filmemacher und das Herz der Künstler-WG: Thomas Hohler gelingt es ausgezeichnet, Sympathieträger zu werden, gekonnt wechselt er zwischen seiner Rolle als Erzähler und filmisch dokumentierendem Mitglied der WG, zeigt gerade in seinen Duetten mit seinem Freund Roger grandiose stimmliche Qualitäten und überragende Intonationssicherheit. Eindringlich zeigt Vikrant Subramanian die Wandlungen Bennys: Erst ist der ehemalige Mitbewohner und Freund Mimis, der nun durch Heirat zu Geld gekommen ist und den Industriekomplex gekauft hat, ein unsympathischer Immobilienhai, der plötzlich nur noch den Gewinn maximieren und von den ehemaligen Freunden Miete (Rent) eintreiben will. Doch der Tod Angels und die damit verbundene Trauer der Freunde bewirkt auch bei ihm ein Umdenken. Es gibt noch viele weitere Rollen, welche von Gerd Achilles (u.a. als Pastor), Rachel Colley (Polizistin und Ensemble), Amya Keller (Mutter von Mark und Obdachlose), Robert LankesterFlorian Minnerop (Gordon), Jessica Rühle (Rogers Mutter), Sander van Wissen (Obdachloser), Tobias Stemmer (Polizist), Lara de Toscano (Alexi Darling und Mimis Mutter), Tamara Wörner (Joannes Mutter) und Adrian Hochstrasser (Swing) mit packendem Einfühlungsvermögen und starken gesanglichen Leistungen interpretiert werden. Sie alle meistern neben den gesanglichen Herausforderungen auch die tänzerischen mit Bravour: Die Chorgeographie von Louisa Talbot ist abwechslungsreich und mit nie erlahmender Energie geladen!

Herrlich inszeniert der Regisseur Matthew Wild die vielen Anrufe der besorgten Eltern, welch auch mal in einem Quintett (in der Art eines Concertato würde man in der Opernsprache sagen) ihren unterschiedlichen Gefühlen Ausdruck verleihen. Paul Wills hat ein die Atmosphäre der Großstadt mit ihren verfallenden (und vielleicht besetzten) Bürogebäuden und Industriehallen stimmig einfangendes Bühnenbild entworfen. Seitlich wird der Raum von Balkonen begrenzt und für die Auftritte und Telefonanrufe z. B. der Eltern genutzt. Claudio Pohle hat für die Kostüme einen Mix aus alternativer Kleidung Jugendlicher aus drei Jahrzehnten entworfen, die Palette reicht von Hippie, über Pop der siebziger Jahre mit den Schlaghosen und Hip-Hop und Sneaker Fetisch zu Punk und Leder und unterstreichen damit den Anspruch der Allgemeingültigkeit des wichtigen Themas. Das Lichtdesign von Tim Mitchell beeindruckt mit atmosphärischer Dichte.

Die in Schwarz-Weiß gehaltenen Videoeinspielungen von Reto Müller kommen mit ihren beabsichtigten Bildstörungen als authentisch wirkende Dokumentarfilme im Stil von filmischen Wochenschauen aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts daher. Aufrüttelnd ist die Szene auf Groß Leinwand, in der ein Junge sein Hemd aufknöpft und darunter die mit Kaposi-Sarkomen übersäte Brust sichtbar wird. Zu Beginn wurde von Seiten des Publikums manchmal noch gelacht (an den falschen Stellen), doch mit zunehmender Dauer des eindringlichen Abends machte sich dann doch Ergriffenheit breit. Am Ende, nach dem mitreißenden und hoffnungsvoll stimmenden Finale, steht dann nur noch die brennende Kerze auf der Bühne, für die sich Mimi mit eiskalten Händen bei Roger ein Streicholz geborgt hatte.

Der lang anhaltende große Jubel des voll besetzten Hauses für alle Beteiligten war überaus verdient!

Kaspar Sannemann, 19. Februar 2024


Rent
Musik, Buch und Liedtexte: Jonathan Larson

Theater St. Gallen

17. Februar 2024

Inszenierung: Matthew Wild
Musikalische
Leitung: Christoph Bönecker
Rent-Band