Uraufführung am 8.5.2016
Oper von Viktor Åslund
Daniel Fiolka (Harry Haller) und Bryan Boyce (Steppenwolf)
„Es hätte schon lange geschehen sollen“, konstatiert der Chor am Ende des ersten Aktes, als sich der Protagonist der Oper, Harry Haller, endlich auf die geheimnisvolle Zwischenwelt des „Magischen Theaters“ einlässt. Das ließe sich auch über die Musik zu dieser Hermann-Hesse-Oper sagen, die am Mainfrankentheater Würzburg mit viel Jubel und Beifall ihre Uraufführung erlebte. Denn die Idee, Hermann Hesses „Der Steppenwolf“ zu vertonen, aus den Figuren Musiktheater-Charaktere zu formen, aus Hesses Musik-Affinität frische Töne zu schlagen, liegt so ferne eigentlich nicht.
Aber auch auf die Musik von Viktor Åslund lässt sich der Satz beziehen: Der schwedische Tonschöpfer schreibt in der Tradition komponierender Dirigenten – Åslund war von 2007 bis 2010 Erster Kapellmeister am Würzburger Theater – eine Musik mit hörbaren Wurzeln in den Aufbrüchen der zwanziger Jahre, weniger in den Verästelungen der ratlosen Avantgarde des 21. Jahrhunderts. Da grüßen die Polystilistik eines Ernst Krenek, der melodische Schwung und der Satz-Ehrgeiz eines Kurt Weill, aber auch die sinnlichen Klanglabyrinthe Franz Schrekers. Eine Combo (unter Leitung vonJoachim Werner) beschwört die Atmosphäre von „Jonny spielt auf“ mit seinen schmeichelnd-erotischen Saxofon-Innovationen, auf das Stichwort „Shimmy“ zitiert Åslund zeitgenössisch verschrägt den Modetanz von damals. Und wenn der Chor den Zuhörern – etwas sehr penetrant wiederholt – einschärft, wie man sich doch amüsiert, meint man, die Rhythmen entführten einen in die Sphäre der „Jazz“-Operette Paul Abrahams oder seines Vorgängers Gustav Adolph Kerker.
Da Åslund die Melodie nicht verschmäht, wirken die gut zweieinhalb Stunden Musik sehr eklektisch, manchmal bewusst rückwärtsgewandt, manchmal sogar rührend nostalgisch. Wer in den Kategorien der Moderne denkt, wird damit nicht warm: Alles schon mal dagewesen. Wer die Postmoderne hofiert, wird da schon anders denken: Rückgriff auf traditionelle Techniken, unbekümmerte Mischung von Stil und Formen. Was beliebt, ist erlaubt; die Dogmen des „Fortschritts“ gelten nicht mehr. So schreiben heutige Komponisten in den USA, die dort – in Europa folgenlos – ihre jungen Opern uraufführen und mit gelingender Theatermusik beeindrucken. Erinnert sei etwa an Kevin Puts‘ “Silent Night“, 2011 uraufgeführt, 2012 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und 2014 beim irischen Wexford Opera Festival nach Europa geholt.
Nach allem, was in Würzburg unter der souveränen Leitung des scheidenden Ersten KapellmeistersSebastian Beckedorf aus dem Orchestergraben klingt, muss sich der Komponist Åslund nicht verstecken. Die ersten exponierenden Takte machen mit den Schichten seiner Musik vertraut: repetierte „patterns“, drohend tiefe Einwürfe der Bläser, eine opalisierende Lasur aus flächigem Streicherklang wie eine Hintergrundfarbe. Dazu prägnante melodische Elemente; keine „Leitmotive“, aber doch markante Tonfolgen mit Wiedererkennungswert.
Foto: Daniel Fiolka (Harry Haller) und Silke Evers (Hermine).
Åslund ist kein Mann der Extreme, auf Reimann’sche Exaltationen muss man nicht warten. So farbig der Einsatz der Klangpalette des Orchesters ist, so sparsam dosiert Åslund diese Fülle. Das tut gut und kommt – die Hand des erfahrenen Operndirigenten ist spürbar – den Sängern entgegen. Die werden wie im Musical verstärkt; ob das nötig ist, mag man bezweifeln. Åslund tut, was lange verpönt war: Er schreibt gediegen gearbeitete, wirksame Theatermusik, die gefällt, ohne zu bedienen oder in wohlfeilen Effekt abzurutschen. Und was ist mit der persönlichen Sprache, der kantigen Individualität? Die prägt sich nicht aus – ein Tribut an die stilistische Vielfalt, die eine persönliche Farbe schwer durchdringen lässt. Vielleicht aber auch notwendige Konsequenz einer Musik, die sich bis hin zu „Don Giovanni“- und „Meistersinger“-Zitaten im Strom der Geschichte tummelt, ohne ein bestimmtes Ufer anzusteuern.
Das Libretto stammt von dem erfolgreichen Autor Rainer Lewandowski („Heute weder Hamlet“). Dem langjährigen Intendanten des E.T.A.-Hoffmann-Theaters Bamberg merkt man die intensive Beschäftigung mit Hermann Hesse, aber auch den Einfluss des Bamberger romantischen Geistes an. Der Konflikt Harry Hallers mit der bürgerlichen Gesellschaft um ihn herum und der Kampf mit dem gierigen, unheimlichen „Steppenwolf“ in ihm hat Parallelen in den dunklen, visionären und bedrohlichen romantischen Über- und Gegenwelten Hoffmanns.
Lewandowski folgt der Struktur des Romans, reichert sie mit geliebter Hesse-Lyrik an – und erliegt damit der typischen Problematik der momentan überstrapazierten Roman-Vertheaterungen: Das Libretto ist sprachverliebt, schweift aus, krankt am Mangel an innerer Dramatik. Die Ansprachen Hermines etwa sind inhaltlich unverzichtbar, aber im Musiktheater kaum zu realisieren, ohne die Spannung zu brechen. Dazu bräuchte es eines Wort-Ton-Genies wie Wagner. Und die Schilderung der Welt jenseits der Normalität, in Würzburg angesiedelt zwischen den Polen der mit Operettenschaum beflockten Vergnügungsetablissements der Zwanziger und geheimnisvoll dunkel-offener Räume, ufert aus und verliert ihre Wirkung.
Das Ende bringt zwar einen spektakulären Mord, relativiert aber auch jegliche Realität. Der innere Weg Harry Hallers mündet in einen Erkenntnisprozess, der sich als Heilung beschreiben ließe. Aber auch als radikale Weltdistanzierung im Zeichen weisen – oder verzweifelten? – Gelächters. Er fordert theatralische Mittel heraus, die in Würzburg schnell erschöpft sind. Anna Vita, die erfolgreiche Ballettdirektorin des Mainfrankentheaters, setzt auf ihre kraftvolle, bewährte Art des Erzählens, bringt in ihr Debüt als Opernregisseurin eine von ihrem Tanzstil geprägte Körperlichkeit, stößt aber an die Grenzen einer schildernden Regie, weil sie sich von radikaler Stilisierung fern hält.
Wenn am Ende die Figuren in blauem Licht kreisen, denkt man an die „Figuren des Lebensspiels“ aus Hesses „Magischem Theater“ – aber die Magie bleibt bei diesem Bild sehr begrenzt. Das Wunderbare, Irrationale, auch Unheimliche dieses Orts findet in der Varieté-Atmosphäre zwar eine Chiffre, aber keine Brechung oder Erweiterung ins Phantastische. Und wenn Anna Vita zu einem Stichwort wie „Don Quichotte“ den Ritter von der traurigen Gestalt durch einen Spot kurz aus dem Dunkel des Hintergrunds treten lässt, wirken solche Fingerzeige bemüht und ziemlich geheimnislos.
Dabei bringt die Bühne von Verena Hemmerlein und ihre fantasievoll gestalteten Kostüme Potenzial mit, den schwankenden Boden der Realität und ihr stets latentes Kippen in innere Abgründe erschauen zu lassen. Die „bürgerliche“ Welt des Professoren-Ehepaars mit Bücherwand und schweren Möbeln steht wie eine Insel im dunkel-offenen Raum; das Zimmer Harry Hallers schwebt in Versatzstücken – biedere Tapete, Waschtisch, Regulator – herbei, als entbehre es einer materiell verfestigten Dreidimensionalität. Für das „Magische Theater“ arbeitet Hemmerlein mit dem probaten Mittel von Stoffhängern, Vorhängen und Licht (Walter Wiedmaier) – einfache Elemente, aus denen sich brillante Wirkungen schlagen lassen.
Aus Harry Haller und seinem Steppenwolf macht das Konzept des Stücks ein Paar nach Art von Jekyll and Hyde. Für Daniel Fiolka und Bryan Boyce eine darstellerische Herausforderung, die beide Sänger beeindruckend umsetzen. Die bewegungsintensive Regie Anna Vitas erfasst die Aspekte einer gespaltenen Persönlichkeit ebenso wie die innere Durchdringung der unterschiedlichen Lebenskonzepte, für die Wolf und Mensch stehen. Silke Evers hat als Hermine eine tragende Rolle in Hesses Kosmos: Sie ist so etwas wie dieser Welt weisestes Weib – und die Musik schmiegt sich in die Stimme und lässt sie leuchten und blühen: In ihren großen Momenten wird deutlich, was es heißt, wenn ein Komponist einer Sängerin, die er genau kennt, Linien, Phrasen, Melodien schreibt.
Auch die Frau ist in Hesses „Steppenwolf“ in gewisser Weise aufgespalten: auf der einen Seite die Leben und Psyche durchschauende, verstehende, tiefgründige Hermine – die erotisch nur latent begehrte Gefährtin. Auf der anderen Seite, in Polina Artsis‘ lebensvoller Verkörperung, das sinnlich-sexuell attraktive „Weib“. Mehr Rollen im imaginären Theater des Lebens als greifbare Menschen bleiben Joshua Whitener (Professor/Louis/Partymann) mit seiner schönen, demnächst in Dortmund im Ensemble erklingenden Tenorstimme oder Anja Gutgesell als Frau von Hallers Freund Louis mit einer treffenden Mini-Charakterstudie. Barbara Schöller mit ihrem zündenden Talent für schräge Typen schwebt in rokokoweiß als Goethe und Mozart über und in die Szene; Rupert Markthaler fügt sich mit geradliniger Mikro-Stimme nicht in die Reihe der Opernsänger ein, so wie sich die Gestalt des „Spielmachers“ Pablo von seinen Figuren abhebt.
Der Chor des Mainfrankentheaters (Leitung Michael Clark) zeigt ein weiteres Mal, dass er mit neuen Klängen ohne erkennbare Mühe umgehen kann. Auch das Philharmonische Orchester Würzburg findet in der differenzierten Partitur mit ihren unaufgeregt leisen Momenten, ihren Soli und ihren Klangflächen und -mischungen stets den passenden Ausdruck, die sichere Linie, die rhythmische Präzision. Sebastian Beckedorf stellt sich mit diesen Musikern für seine künftige Laufbahn eine glänzende Visitenkarte aus.
Die Uraufführung ist noch ein Erbe von Hermann Schneider, der bereits die Spielzeit 2016/17 an seinem künftigen Haus Linz vorbereitet. Nachdem die Stadt Würzburg bisher nicht für nötig befunden hat, Schneider nach zwölfjähriger Tätigkeit als Intendant mit Anstand zu verabschieden, ist der „Steppenwolf“ sein künstlerisches Abschiedsgeschenk an das Würzburger Publikum, das er in der Oper mit einer Reihe verdienter Wiederentdeckungen und einigen ehrgeizigen Uraufführungen aus dem Dämmer eines eingefahrenen Repertoires geweckt hat – für den künftigen Würzburger Intendant Markus Trabusch und seinem neuer Operndirektor Berthold Warnecke eine Herausforderung, der sie sich 2016/17 zunächst mit dem ambitionierten Projekt einer Inszenierung von Giacomo Meyerbeers „Les Huguenots“ stellen.
Weitere Aufführungstermine: 11., 21., 31.05.; 02., 15., 17.06.; 01.07.2016.
Werner Häußner 10.5.16
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)
Foto: Falk von Traubenberg