Würzburg: „Alessandro nell’ Indie“, Baldassare Galuppi

Besuchte Aufführung: 4.10.2015 (Premiere: 20.6.2015)

Gelungene Aktualisierung oder Misstrauen gegenüber dem lieto fine

Heute dürfte er nur noch wenigen eingeschworenen Musikliebhabern ein Begriff sein, im 18. Jahrhundert war sein Name jedoch hoch berühmt: der italienische Komponist Baldassare Galuppi. 1706 in Burano, einem Ort in der venezianischen Lagune, geboren, kam er durch seinen Vater schon früh mit der Musik in Berührung. Im zarten Alter von erst 16 Jahren komponierte er seine erste Oper. Wer denkt da nicht an den jungen Mozart? Im Folgenden wurde er einer der ersten Vertreter dieser Gattung, der gleichermaßen in der Opera seria wie auch in der Opera buffa beheimatet war. Insbesondere letztere führte er zusammen mit Carlo Goldoni zu höchster Güte. Seine Vertonungen ernster Stoffe basierten dagegen größtenteils auf Libretti von Pietro Metastasio, von dem auch der Text zu Galuppis zum Karneval in Mantua 1738 aus der Taufe gehobener und seit immerhin 260 Jahren nicht mehr aufgeführter Oper „Alessandro nell’ Indie“ stammt, die vergangene Saison am Mainfrankentheater Würzburg mit großem Erfolg aus der Versenkung geholt wurde und jetzt eine imposante Wiederaufnahme erlebte.

Joshua Whitener (Alessandro)

Der Aufführung zugrunde liegt die Münchner Fassung von 1755, die der Galuppi-Fachmann Prof. Dr. Reinhard Wiesend anhand einer in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrten Abschrift der Partitur für das Würzburger Theater eingerichtet und dabei wegen Überlänge erst einmal tüchtig den Rotstift angesetzt hat. Aber auch in gekürzter Form konnte man schnell einen trefflichen Eindruck von diesem beachtlichen Stück gewinnen, das zu Händels unter dem Titel „Poro, Re dell’ Indie“ vorgenommener Vertonung des Stoffes eine gleichwertige, wenn nicht gar bessere Alternative darstellt. Man kann verstehen, dass Galuppi von 1741 bis 1743 ein sehr erfolgreicher Nachfolger Händels als Kapellmeister der italienischen Oper am Londoner Haymarket Theatre war, als das dortige Publikum mit Händels Kompositionen nicht mehr in gleichem Maße zufrieden war wie früher. Händel wandte sich daraufhin ja auch dem englischsprachigen Oratorium zu.

Sonja Koppelhuber (Erissena), Silke Evers (Cleofide)

Der große Erfolg, den „Alessandro nell’ Indie“ bei dem Würzburger Publikum hatte, ist durchaus nachzuvollziehen. Für die Ausgrabung gebührt Intendant Hermann Schneider und seinem versierten GMD Enrico Calesso hohes Lob. Galuppi hat eine vielschichtige, differenzierte Musik geschrieben, die recht einfühlsam war und auf emotionaler Ebene durchaus zu berühren wusste. Auffällig war, dass die Arien manchmal ausgesprochen lang waren. Eine Dauer von sieben bis acht Minuten war keine Seltenheit. Auch Duette kamen vor. Erheblichen Anteil an dem barocken Klangrausch hatten Dirigent Sebastian Beckedorf und das bestens disponierte Philharmonische Orchester Würzburg. Schnell wurde offenkundig, dass die Musiker bestens vorbereitet waren und ihre Aufgabe mit Freude erfüllten. Hier wurde im hochgefahrenen Graben mit hoher Intensität ein prägnanter, dunkel timbrierter Klangteppich erzeugt, der ein treffliches Pendant zum dramatischen Geschehen auf der Bühne bildete. Der melodische Reichtum der Partitur wurde bestens herausgearbeitet und dem Orchester eine gegenüber den Singstimmen durchaus eigenständige Funktion eingeräumt, die sich nicht auf reines Begleiten der Singstimmen beschränkte. Zu spüren war, dass das Stück sämtlichen beteiligten Musikern sehr am Herzen lag. Da wurde sehr konzentriert und klangschön gespielt und mit so mancher hübschen Nuance aufgewartet. Bravo!

Sonja Koppelhuber (Erissena)

Eingebettet ist die Handlung in den historischen Indienfeldzug Alexanders des Großen, der in der Schlacht am Fluss Hydaspes im Jahre 326 v. Chr. den indischen König Poro besiegte, ihm aber großzügig seine Freiheit und sein Land wieder zurückgab. In der Oper herrscht Poro nur über einen Teil Indiens. Die geschichtlich überlieferten Ereignisse bilden hier indes nur den äußeren Rahmen für ein ansonsten frei erfundenes Beziehungsgeflecht zwischen Alessandro und den übrigen Beteiligten, das von Liebe, Intrigen und Verrat bestimmt wird und damit genau den Parametern entspricht, die eine Oper zu Galuppis Zeiten haben musste. Im Zentrum steht die Liebe sowohl Alessandros als auch seines Widersachers Poro zu der über einen anderen Teil Indiens herrschenden Königin Cleofide. Schließlich kommt es zu einem Attentat auf Alessandro, das Cleofide zugeschrieben wird, für das aber Timagene, Vertrauter des Griechenkönigs und gleichzeitig Verräter, verantwortlich ist. Am Ende verzeiht Alessandro aber allen – auch das ein absolutes Muss einer Barock-Oper – und gibt Poro Cleofide zur Frau.

Joshua Whitener (Alessandro), Silke Evers (Cleofide)

Gelungen war die Inszenierung von Francois De Carpentries, für die Karine Van Hercke das gelungene Bühnenbild und die größtenteils modernen Kostüme schuf. Nur Cleofide ist konventionell gekleidet. Dem Regieteam geht es nicht darum, einen mehr oder weniger belanglosen Barock-Schinken auf die Bühne zu bringen, sondern dem Ganzen einen überzeugenden zeitgenössischen Anstrich zu geben. Diese Intention ist dann auch voll und ganz aufgegangen. In der Tat wirkte die Produktion in hohem Maße aktuell und hielt dem Zuschauer gleichsam den Spiegel vor. Nichts anderes erfordert der allgemeine kulturpolitische Auftrag sämtlicher Theater und Opernhäuser, nämlich ein Abbild der Gegenwart zu sein. Diesem Erfordernis genügt der Regisseur, wenn er das Geschehen im Grenzgebiet zwischen Afghanistan, Pakistan und Indien ansiedelt, das damals wie heute ein ausgemachter Krisenherd ist, in dem es immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt. Von Anfang an kann kein Zweifel daran bestehen, dass wir uns hier in einem zeitgenössischen Kriegsgebiet des Fernen Ostens befinden. Rattern von Maschinengewehren kommt immer wieder auf. Projektionen zeigen Panzer, die über eine karge Gebirgslandschaft Afghanistans fahren und das Land zu erobern suchen, nach dem Alessandro seine gewalttätigen Finger ausstreckt. Demgemäß erscheint auf einem Hintergrundprospekt auch ein blutiger Händeabdruck – eine gute Symbolik. Ein zerstörtes Kinderzimmer mit nicht mehr gebrauchtem Spielzeug und Massen von Kriegsopfern runden das Bild ab. Daneben behandelt De Carpentries mit Blick auf eines der größten Probleme der Gegenwart auch die Problematik der Heimatvertriebenen. Immer wieder ziehen auf der Bühne traumatisierte Flüchtlinge vorbei, meistens ohne von den übrigen Handlungsträgern bemerkt zu werden. Mit einem stummen Hilferuf, ihnen doch endlich Aufmerksamkeit zu schenken, hinterlassen sie ebenfalls die Abdrücke ihrer Hände auf einem niederfahrenden blutroten Prospekt. Nur von Cleofide werden sie schließlich in einem Augenblick bemerkt, in dem sie selbst genauso verzweifelt ist wie sie. Alessandro und die anderen Protagonisten nehmen dagegen keine Notiz von ihnen. Sie sind ihnen schlicht und ergreifend egal. Das Plädoyer des Regisseurs für Flüchtlingshilfe wird nur allzu deutlich.

Denis Lakey (Poro), Sonja Koppelhuber (Erissena)

Zuvorderst Alessandro hat kein Mitleid mit ihnen, was ihn nicht gerade sympathisch macht. Er kennt die Leiden der Menschen in Afghanistan nicht. Dafür ist er auch selten genug selbst auf dem Schlachtfeld. Er wird hier nicht als militärischer Führer dargestellt, sondern als ein einen eleganten weißen Anzug tragender Politiker vorgeführt, der die Strategie für die Schlacht per Handy an seine Generäle weitergibt und sich von seinem Getreuen Timagene, mit dem er auch einmal Sex in Form eines Schattenspiels hat – eine gelungene Anspielung auf die angebliche homoerotische Veranlagung Alessandros -, die Aktentasche hinterher tragen lässt. Mit Hilfe seines Mobiltelefons teilt er zum Schluss auch Angela Merkel in englischer Diktion mit – diese Sprache benutzt er immer beim Telefonieren -, dass Griechenland beabsichtigt, aus der Euro-Zone auszusteigen – eine amüsante zeitgemäße Anspielung.

Sonja Koppelhuber (Erissena), Silke Evers (Cleofide)

Einen Revolver führt Alessandro trotz seiner schicken Kluft doch mit sich – wie auch die meisten anderen Handlungsträger. Auf dem Feld der Ehre ist er aber, wie gesagt, nicht zu Haus. Im Kampf erntet er keine Lorbeeren. Insofern hat er auch in keiner Weise das Recht dazu, sich als Sohn des Gottes Ammon auszugeben. Da verwundert es auch nicht, dass ihm in einem der Ouvertüre vorangestellten, per Lautsprecher eingeblendeten gesprochenen Auszug aus Lukian von Samosatas „Totengespräch“ von seinem Vater Philippos ganz schön die Leviten gelesen werden. Im Vergleich zu Alessandro wirkt der dem ehemaligen afghanischen Präsidenten Karzai nachempfundene Poro schon mehr wie ein echter Mann. Es prallen die verschiedensten Befindlichkeiten aufeinander, die von De Carpentries in Form einer unaufdringlichen Personenregie beleuchtet werden. Angesichts der zum Schluss hin regelrecht überkochenden Emotionen misstraut der Regisseur dann auch berechtigterweise dem obligaten lieito fine der Barock Oper und präsentiert gekonnt zwei Varianten des Endes: Einmal endet alles traditionell in Friede, Freude, Eierkuchen. Das andere Mal aber erscheint Cleofide als Selbstmordattentäterin mit einem Sprengstoffgürtel und sprengt sich und die anderen in die Luft. Dass letztere Version vorzuziehen ist, ist gar keine Frage. Sie ist sehr viel spannender als das vordergründige Happy End.

Joshua Whitener (Alessandro), Silke Evers (Cleofide)

Durchwachsen waren die gesanglichen Leistungen. Joshua Whitener war ein darstellerisch tadelloser, viriler und eleganter Alessandro. Indes fehlte es seinem eigentlich nicht ungefälligen, leichten und frischen Tenor an tiefer Fokussierung. Nicht sehr gefällig war in der Rolle des Poro Denis Lakey, dessen Countertenor recht stark auf der Fistelstimme fußte. Wunderbar war Silke Evers anzuhören, die einen hervorragend fokussierten, warmen und sehr flexiblen Sopran bester italienischer Schulung für die Cleofide mitbrachte, die sie auch überzeugend spielte. Ebenfalls gut gefiel Sonja Koppelhuber, die mit bestens sitzendem, markantem Mezzosopran die Erissena sang. Eine ansprechende Leistung ist der voll und rund, dabei locker und geschmeidig intonierenden Anja Gutgesell in der Partie des Gandarte zu bescheinigen. Etwas mehr stimmliche Durchschlagskraft hätte man sich von Maximiliane Schwedas Timagene gewünscht, die manchmal Schwierigkeiten hatte, sich gegenüber dem Orchesterapparat zu behaupten.

Fazit: Eine interessante Ausgrabung, die dem Mainfrankentheater Würzburg alle Ehre macht und deren Besuch durchaus empfohlen werden kann.

Ludwig Steinbach, 6.10.2015

Die Bilder stammen von Falk von Traubenberg