Zürich, Konzert: „Mozart, Prokofjew, Schostakowitsch“, Tonhalle-Orchester unter Paavo Järvi

Überwältigende Sinfonie ohne Kopf – Schostakowitschs 6. Sinfonie steht in derselben Tonart wie Tschaikowskys 6., nämlich in h-Moll. Das ist kein Zufall. Schostakowitsch hat Tschaikowskys Sinfonien nicht nur gut gekannt, sondern auch sehr geschätzt. Die 6. Sinfonie, genannt „Pathétique“ von Tschaikowsky endet – sehr ungewöhnlich – mit einem langsamen Satz, einem Adagio lamentoso, mit fallenden Seufzern und einem düsteren Akkord in h-Moll. Schostakowitsch beginnt seine sechste Sinfonie mit aufsteigenden Seufzern in h-Moll, setzt also einen langsamen Satz, ein Largo, an den Beginn seiner Sechsten. Darauf lässt er nur noch zwei schnell dahinrauschende Sätze folgen, ein Allegro und ein Presto. Der Sinfonie fehlt also der Kopfsatz – und Schostakowitsch setzt damit ein bemerkenswertes Zeichen. Nach dem vordergründigen Jubel-Marsch-Finale in seiner fünften Sinfonie (sie erklang letzten Sonntag im Opernhaus Zürich unter Tarmo Peltokoski) nun also ein introvertiertes, sorgenvolles Leiden. Ein Leiden, das Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich mit gewaltiger und unter die Haut gehender Emphase interpretierten. Diese klagenden Schreie erklangen mit Gänsehaut erregender Eindringlichkeit. Dabei verzichtete Järvi auf jegliches Pathos, drängte vorwärts, ließ die Farben des Orchesters schillern und schmerzhaft gleißen, so z.B. die Piccoloflöte über den Streicherfiguren oder das Englischhoren, das sich zart aus dem Tremolo der Streicher emporschwang. Die Holzbläser brillierten mit den beiden Flöten, der Bassklarinette, den Klarinetten, Fagotten und Oboen. Das Variieren ein und desselben Themas gemahnte an Bach und blieb doch ganz und gar Schostakowitsch. Der warme Klang der Streicher umflorte das Geschehen mit unfassbarer Schönheit. Der Satz verklang leise leidend, in tragischer Schicksalsergebenheit. Ganz anders dann die beiden folgenden Sätze: Die Klarinetten stimmen ein auf einen turbulenten Reigen, Jahrmarktsstimmung an der Grenze zum Chaos, jauchzende, Ländler hafte Passagen der exzellenten Holzbläser des Tonhalle-Orchesters Zürich steuern Witz und unbeschwerte Leichtigkeit bei. Das Finale präsentierte sich als temporeicher Galopp, leichtfüßige, vordergründige Fröhlichkeit (damit wirkt die Fröhlichkeit dieses Finalsatzes so aufgezwungen wie der Jubelmarsch in der Fünften). Aber deutlich hört man das warnende Fauchen der Flöte dazwischen, die zur Vorsicht mahnt. Damit hört man nicht nur stampfende Ausgelassenheit, sondern eben auch drohende Gefahr. Die Entstehung der Sinfonie fiel in die Zeit des Nichtangriffspaktes zwischen Hitler und Stalin, das war eine auf falschen Annahmen beruhende Friedenszeit. Und Künstler wie Schostakowitsch haben das eben gespürt.

Der Jubel in der Tonhalle war verdientermaßen groß, so dass das Orchester sogar noch eine Zugabe spielte, nämlich Schostakowitschs witzigen Foxtrott „Tahiti Trot“, der auf der Melodie Tea For Two aus dem Musical No, No, Nanette fußt. Der Dirigent Nicolai Malko hatte Schostakowitsch zu einer Wette verleitet: Schostakowitsch schaffe es nicht, die Melodie innerhalb einer Stunde aus dem Gedächtnis niederzuschreiben und zu orchestrieren. Schostakowitsch nahm die Wette an und präsentierte nach 45 Minuten das Ergebnis. Malko nahm die Partitur in seine Konzerte auf und die Komposition erfreute sich in der Sowjetunion überwältigender Beliebtheit. Natürlich nur, bis die Kulturverantwortlichen der KPDSU einschritten und den Foxtrott als westlich dekadent brandmarkten. Sie bezeichneten diese Musik als „Denken mit den Sexualorganen anstelle des Hirns“. Schostakowitsch distanzierte sich von seinem Werk, es verschwand. Die Witwe Malkos jedoch übergab die erhalten gebliebenen Stimmen dem Dirigenten Gennadi Rozhdesvensky, welcher daraus eine Fassung erstellte, die sich erneut größer Beliebtheit erfreute. so auch gestern Abend beim amüsiert lauschenden Publikum im großen Saal der Tonhalle Zürich.

Prokofjews Violinkonzert: Doch was spielt man im „Begleitprogramm“ einer so überragenden Sinfonie? Diese Frage stellt sich immer wieder, wenn man gewichtige Sinfonien von Bruckner, Mahler oder eben Schostakowitsch spielt. Die Tonhalle Zürich entschied sich für Prokofjews 2. Violinkonzert in g-Moll. Eine gute Wahl, denn Prokofjew und Schostakowitsch waren praktisch Zeitgenossen, beide Russen. Prokofjew verbrachte ab 1918 lange Zeit im Exil und kehrte erst 1936 definitiv und freiwillig in die Sowjetunion zurück. Er hatte bedeutend weniger Ärger mit dem Regime als sein Kollege Schostakowitsch. Als Solistin konnte man die herausragende Lisa Batiashvili erleben. Im Gegensatz zur Sinfonie Schostakowitschs ist die Satzabfolge in Prokofjews Konzert klassisch: Schnell – langsam – schnell. Die Einleitung durch die Solovioline klang für mich nicht ganz so innig, wie ich es mir gewünscht hätte. War da etwas Nervosität im Spiel. Doch später, in den unzähligen Varianten, in denen diese volksliedhafte Phrase verarbeitet wurde, nahm die Kantabilität immer berührendere Züge an, Lisa Batiashvili stieg versiert in die Dialoge mit dem Orchester ein, zeigte ihre stupende Virtuosität in den akzentuierten Passagen des Mittelteils und hob vor allem im wunderbaren Seitenthema den lyrischen Gedanken wunderschön hervor. Im Andante legte sie mit ihrem Spiel die elegische Stimmung des Satzes auf den vom Orchester traumhaft schön grundierten Klangteppich aus den Pizzikati der Streicher und den stimmungsvollen Phrasen der Klarinetten, welche den himmlischen Kantillen der Solovioline eine Art Erdung verliehen. Im leichtfüßig daherkommenden Mittelteil hörte ich orchestrale Anklänge an die Kompositions- und Orchestrierungsweise eines Richard Strauss heraus.

Herrlich, wie Paavo Järvi die Fagotte heraushob, wie Lisa Batishvili mit ihrer Klangschönheit der Tongebung sehnsüchtige Gedanken im Dialog mit den Klarinetten offenbarte, wie so ein wundersames Gesamtklangbild entstand. Der markante Finalsatz war dann ein Wirbel aus spanischen Impressionen (Kastagnetten), bizarrer Groteske und virtuoser Rasanz. Verdienter, großer Jubel führte zu einer ungewöhnlichen Zugabe: Zusätzliche Orchestermusiker gesellten sich aufs Podium, gespielt wurde der Beginn von Prokofjews Ballettsuite Romeo und Julia (Die Montagues und die Capulets), mit Lisa Batiashvili quasi als Stimmführerin der Violinen. Große Freude beim Publikum!

Applausbild vom Rezensenten

Begonnen hatte der Abend mit Mozart, nämlich mit dessen Ouvertüre zu Don Giovanni – eine Programmierung, deren konzeptioneller Gedanke sich mir nicht erschloss. Ich sah nur die Parallele, dass auch dieses Stück, wie das Konzert Prokofjews und die Sinfonie Schostakowitschs in einer Moll-Tonart geschrieben ist (d-Moll). Weitaus passender wäre ein kürzeres Werk aus der Feder Prokofjews oder Schostakowitschs gewesen (davon gäbe es eine riesige Auswahl) – oder eines anderen Russen. Opernouvertüren als „Füller“ in Konzertprogrammen sehe ich sowieso kritisch. Oder wollte man dem der Musik des 20. Jahrhunderts eher skeptisch gegenüberstehenden Publikum mit Mozart das Programm versüßen? Gewirkt hat’s wenig: Der Applaus nach dieser (gut gespielten) Don-Giovanni-Ouvertüre war äußerst kurz.

Kaspar Sannemann, 26. Oktober 2024


Mozart: Ouvertüre zu Don Giovanni
Schostakowitsch: 6. Sinfonie
Prokofjew: Violinkonzert

Konzert am 23. Oktober 2024
Tonhalle Zürich

Solistin: Lisa Batiashvili 
Musikalische Leitung: Paavo Järvi
Tonhalle-Orchester Zürich