Seit seiner Uraufführung in Budapest im Jahr 1927 wurde Puccinis beliebtestes Werk mehrere Jahrzehnte lang in drei verschiedenen Inszenierungen aufgeführt. Zuletzt 1997 in jener farbenprächtigen Inszenierung von Balázs Kovalik, der wohl viele Zuseher im Publikum an diesem Abend nachtrauerten. Von der musikalischen Seite her muss erwähnt werden, dass neben dem traditionellen Schluss von Franco Alfano auch der 2002 von Luciano Berio für die Salzburger Festspiele komponierte Schluss gezeigt wird. Der Vollständigkeit halber wäre noch zu erwähnen, dass Hao Weiya ein weiteres Finale für die Peking China NCPA (National Centre for the Performing Arts) und Christopher Tin ebenso eines für die Washington Opera komponiert haben. Die ungarische Regisseurin und Choreografin Dóra Barta zeigt in der Berio Version, dass es dem Tartaren Prinzen Kalaf mehr um Macht als um Liebe geht. In ihrer Lesart konzentriert sich die Geschichte von Turandot und Calàf in ihren Ansätzen auf die politischen Intrigen rund um das Überleben herrschender Dynastien, in denen die Prinzessin Turandot (persisch توران دخت – Mädchen aus Turan) nur als Werkzeug für imperiale Interessen dient. Der längere Schluss von Franco Alfano wurde wohl wegen Yusif Eyvazovs Gastauftritt in Budapest eingefügt. Aber auch sonst gibt es Unterschiede in der Inszenierung. Während Turandot, nachdem Kalaf alle drei Rätsel gelöst hat, diesen ohrfeigt, wurde dieses Detail bei Yusif Eyvazov weggelassen.
Ich vermute, dass es für einen Moslem unehrenhaft gewesen wäre, sich vor Publikum von einer Frau züchtigen zu lassen… Die Regisseurin hat die packenden Bilder in den dramatischen Szenen durch Elemente des Bewegungstheaters bereichert, die das Machtgefüge deutlicher sichtbar machen sollen. Von Regisseur Kovalik übernahm sie auch die Idee, dem unbekannten Tartaren Prinzen die Lösung der drei Rätsel zu verraten, womit sich der Betrug und Verrat an der Ahnherrin Louling eigentlich wiederholt. Zu Beginn der Oper erwarten Tänzer zu beiden Seiten des Parketts das eintretende Publikum. Sie alle sind grau wie Ninja Kämpfer angezogen und wirken bedrohlich. Mit Beginn der Oper stürmen sie auf die Bühne gefolgt vom Chor stellvertretend für das Volk von Peking. Ildikó Tihanyi besorgte die gesamte Ausstattung, in der Elemente einer märchenhaften östlichen Welt auf zeitgenössische asiatische Mode treffen. Der Hintergrund der Bühne ist rot. In der Mitte befindet sich ein großer silbergrauer Kreis. Wenn er sich in zwei Richtungen öffnet, erschließt sich dem Publikum ein auffälliges Treppen- und Plattformsystem, welches den Kaiserpalast symbolisieren soll. Diese futuristisch anmutende Konstruktion hebt und senkt, öffnet und schließt sich, um nur alle technischen Möglichkeiten der renovierten Bühne auszunützen. Insgesamt geht bei dieser modernen Sichtweise aber der Märchencharakter von Carlo Gozzi völlig verloren. Der prächtige Palast Turandots bei Kovalik wich einer langweiligen grauen Glaskabine, die fallweise mitten auf der Bühne stand. Die Funktion der Ninjaartig in Grau bekleideten Tänzer hat sich mir nicht erschlossen. Teilweise tanzen sie, teilweise zappeln sie bloß und ergänzen das Bühnengeschehen ohne tieferen Sinn.
Der Dirigent war bei beiden Aufführungen Péter Halász, erster Gastdirigent der ungarischen Staatsoper und Kapellmeister der Deutschen Oper am Rhein. Er leitete am Pult des Orchesters der ungarischen Staatsoper beide Aufführungen mit äußerster Präzision. Wie ein unsichtbarer Faden durchzieht die Pentatonik in der Musik Puccinis Turandot und erstrahlte in der Umsetzung durch Péter Halász im ausgewogenen Wechsel zwischen effektvollen, schwelgerischen Bögen und kurzen Tempi, vor allem in den Ensembleszenen. Einen Teil der Blechbläser hat man wie schon in der Vorgängerinszenierung in die rechte Proszeniumsloge verbannt. Gábor Csiki hatte den Chor der ungarischen Staatsoper bestmöglich auf seine mannigfaltigen Aufgaben in dieser Inszenierung einstudiert, ebenso Nikolett Hajzer den Kinderchor. Zoltán Katonka zeichnete für die abwechslungsreiche Lichtregie verantwortlich. Im Folgenden möchte ich auf die Besetzung zu sprechen kommen, die in beiden Vorstellungen gleich war: Da wären zunächst einmal das illustre Ministertrio bestehend aus Attila Erdős als Kanzler Ping, Tibor Szappanos als Marschall Pang und Pál Botond als Küchenmeister Pong. In Puccinis letzter Oper verkörpern sie den eher komischen Part. Die drei sangen im Großen und Ganzen ausgewogen. Für die Rolle von Kaiser Altoum kehrte der pensionierte Tenor Dénes Gulyas nach zehn Jahren wieder an die ungarische Staatsoper zurück und interpretierte diese Rolle mit großer Würde. Péter Fried gab den Tartarenkönig Timur nur am 23. November. Wegen einer Erkrankung wurde seine Rolle und die des Mandarin am 24. November von András Palerdi mit sonorem Bass rollengerecht interpretiert. Kommen wir nun zu den drei Hauptrollen, wobei ich gestehen muss, dass ich gerade die beiden Interpretinnen der Turandot seit mehr als 25 Jahren in ihrer Entwicklung an der ungarischen Staatsoper und in Österreich mit großem Interesse verfolgt habe, sodass mir ein objektives Urteil von daher äußerst schwerfällt. Eszter Sümegi, die am Anfang ihrer Karriere auch die Liù gesungen hat, ist nun nach den wichtigsten Puccini-, Verdi-, Wagner- und Straussrollen bei der halsbrecherischen Partie der Turandot angelangt. Diese Ausnahmekünstlerin bewies wieder einmal Durchsetzungsvermögen im forte und ließ wundervolle legato-Phrasen in den lyrischeren Passagen erklingen. László Boldizsár war als Calàf akzeptabel und für sein imposantes drittes „vincerò“ beim „Nessun dorma“ erhielt er sogar verdienten Szenenapplaus. Polina Pasztircsák, Schülerin von Mirella Freni, gestaltete als Liù in der Berio-Version besonders gefühlvoll ihre erste Arie „Signore, ascolta“ und mit ihrer Abschiedsarie „Tu, che di gel sei cinta“ im dritten Akt rührte sie zu Tränen, als sie ihr Leben durch Suizid verhauchte.
Am 24. November sang Szilvia Rálik die Titelpartie. Gleich zu Beginn ihrer Karriere reüssierte sie mit großem Erfolg als Norma, gefolgt von den großen Verdi- und Puccini Heroinen, allen drei Brünnhilden, sowie Elektra, Salome, Ariadne und Färberin, um nur die wichtigsten zu nennen. Ihre Turandot zeichnete sich durch eine messerscharfe Höhe aus, mit der sie Calàf in der Rätselszene vergeblich einzuschüchtern suchte. Dieser wurde von dem in Algier geborenen dramatischen aserbaidschanischen Gasttenor Yusif Eyvazov mit dem für das „Ness’un dorma“ erforderlichen Schmelz im Timbre überwältigend gesungen. Kriszta Kinga ergänzte als aufopferungsbereite Liù mit schön geführtem Sopran in allen Lagen. Langanhaltenden Applaus gab es bei beiden Vorstellungen und zahlreiche Bravo Rufe für beide Interpretinnen der Titelpartie. In der Rolle des Calàf lag Yusif Eyvazov in der Gunst des Publikums eindeutig vor László Boldizsár, der an das tenorale Niveau des Gastes nicht ganz heranreichte. Im Übrigen wurden aber alle anderen Mitwirkenden gleichmäßig mit Applaus bedacht.
Harald Lacina, 26. November 2024
Turandot
Giacomo Puccini
Ungarische Staatsoper Budapest
23. und 24. November 2024
Inszenierung: Dora Bárta
Musikalische Leitung: Péter Halász
Orchester der ungarischen Staatsoper