Palau de les Arts Reina Sofia – Premiere am 2.6.17
Atemberaubend
Obwohl Benjamin Brittens Kammeroper nicht zum Kern des Repertoires gehört, hatte ich in meinem langen Opernleben doch die Möglichkeit, das Werk mehrfach in verschiedenen Produktionen zu erleben, nicht zuletzt in der laufenden Saison an der Scala. Die in Valencia im kleinen Saal Martín i Soler gesehene brachte mir ein Erlebnis, das für mich bei diesem Werk neu war. Bekanntlich geht es um eine praktisch nicht zu definierende Handlung zwischen ghost-story und Psychodrama, die sich für unzählige Interpretationen anbietet, die in ihrer Aussage, je nach Fähigkeit des Regisseurs, alle überzeugend ausfallen können.
Die hier besprochene gab mir allerdings das Gefühl, die Auslegung des Stoffes gesehen zu haben, auch wenn dies im Kontrast zum zuvor Gesagten steht. So spannend, so wie ein Thriller von Hitchcock war das Ganze, dass man die Dauer von einer Stunde und 50 Minuten gefesselt auf seinem Sitz saß und fast aufs Atmen vergaß. Die 16 Szenen endeten jedes Mal mit dem Schließen des Vorhangs, was das unerbittliche Fortschreiten der tragischen Handlung betonte. Das Bühnenbild von Manuel Zuriaga bestand aus verschiebbaren Wänden mit einem Tapetenmuster, das wohl harmlos und dem Geschmack der Zeit geschuldet schien, aber in Wirklichkeit die erstickende Bedrücktheit der Story unterstrich. Den verschiedenen Szene entsprechend rückten diese Wände einander näher oder bildeten geometrische Formen, die mit der ausgezeichneten Lichtregie von Nadia García und Antonio Castro immer bedrückender erschienen. Genial gelöst die Szene mit Miss Jessel, in der die Erzieherin in ihrem Bett schief an der Wand hängt, um die Alptraumhaftigkeit dieser Erscheinungen der Toten zu unterstreichen. Auch Mrs. Grose erhält einen unheimlichen Touch, denn ihre hoffnungsvollen Worte erscheinen irgendwie nicht ehrlich.
Eine grandiose Inszenierung des Hausherrn Davide Livermore also (der übrigens kein Extrahonorar für seine Regiearbeiten erhält), die aber ohne die fabelhafte Unterstützung durch das Orquestra de la Comunitat Valenciana unter Christopher Franklin nur eine halbe Sache geblieben wäre. Was der amerikanische Dirigent aus dieser reduzierten Besetzung herausholte, war gleichfalls sensationell. Jeder einzelne Einwurf (ich denke dabei an Oboe oder Klarinette, ohne irgendein anderes Instrument bzw. dessen Spieler hintan zu stellen) stand in direkter Beziehung nicht nur zu der betreffenden Szene, sondern auch zur jeweiligen Phrase – einfach großartig!
Die Sänger stammten mit Ausnahme des Miles, alle aus dem Centro de Perfeccionamiento Plácido Domingo. Es muss gesagt werden, dass hörbar wirklich nur die begabtesten Stimmen ausgewählt wurden und offenbar auch der Unterricht funktioniert, denn nicht nur sangen alle tadellos, sondern erwiesen sich auch als gestandene Schauspieler. Hier gab es nun wirklich keinen Schwachpunkt, dennoch sollen die Solisten neben ihren unbestreitbaren schauspielerischen Fähigkeiten auch für ihre – in diesem Werk an sich nicht vorrangigen – stimmlichen Qualitäten gelobt werden: Die Mexikanerin Karen Gardeazabal als Erzieherin, ein frischer lyrischer Sopran mit Entwicklungspotential, die Japanerin Nozomi Kato als Mrs. Grose mit beeindruckendem, nach anspruchsvolleren Rollen verlangenden Mezzo, der Venezolaner Andrés Sulbarán als Peter Quint, normalerweise ein Charaktertenor, aber hier mit süßen, überaus verführerischen Tönen gesungen (den Prolog, üblicherweise dem Interpreten des Quint anvertraut, sang Livermore selbst). Miss Jessels Rolle ist etwas undankbar, aber die Italienerin Marianna Mappa war absolut intensiv und überzeugend. Auch Flora kam aus dem Centro: Die (durchaus erwachsene) Italienerin Giorgia Rotolo war unglaublich präsent als als unaufrichtiges Mädchen, dessen Einfluss auf den Bruder nicht zu unterschätzen war. Dieser wurde von William Hardy aus der Trinity School in Croydon
interpretiert, und falls diese Produktion noch einer Komponente bedurft hätte, um ihren absoluten Wert zu bestätigen, so war es dieser junge Künstler. Wir wissen, wie schwierig es ist, einen richtig besetzten Miles zu finden, aber dieser wusste – in der Statur schon hochgeschossen, aber eben noch nicht im Stimmbruch – die Ängste des Knaben (einschließlich nächtlicher Samenergüsse nach dem Gespräch mit Quint) atemberaubend ehrlich umzusetzen.
Großer Erfolg für Livermore und seine Mitarbeiter und natürlich vor allem die so vorbildlich ausgebildeten Sänger des Centro, dessen Leiter er zusätzlich zu seinem Amt als Intendant ist.
Eva Pleus 7.6.14
Bilder: JC BARBERA