Unterm Holender hätt’s das nicht gegeben. Der verstand nämlich etwas von Stimmen. Und der hat richtig besetzt. Und wenn nicht… na, dann nicht, weil er es nicht besser wusste, sondern aus direktorialer Berechnung. Selbstverständlich hätte er Juan Diego Florez seinen ersten Rodolfo in der „Bohème“ singen lassen, auch wenn er genau gewusst hätte, dass dessen Stimme sich für Puccini nicht wirklich eignet. Aber der Mann ist erstens ein Weltstar, zweitens ein deklarierter Wiener Publikumsliebling und füllt drittens auf jeden Fall das Haus.
Sicherlich hätte Holender jedoch die Mimi, einen lyrischen Sopran, und die Musetta, eine Soubrette, nicht mit zwei dramatischen Stimmen besetzt, die den Charakter ihrer Rollen verändern. Und er hätte dem tenoralen Helden auch keine Partnerin zur Seite gestellt, deren Stimme hörbar größer ist als seine und die ihn immer wieder ziemlich gnadenlos in Grund und Boden gesungen hat…
„La Boheme“ also, im Dezember 2025 viermal zu den zweithöchsten Preisen des Hauses angesetzt, die erste Vorstellung davon war immerhin die 469. Aufführung der Zeffirelli-Produktion, Es werden Wetten angenommen, ob diese Inszenierung, diese Legende, die Ära Roscic übersteht…
Juan Diego Florez als Rodolfo. (Kein Bauchfleck wie der Polline – wie manche meinten.) Wer in der gegenwärtigen Ära der optisch starken Tenöre dermaßen seine schlanke Silhouette und sein jugendliches Aussehen bewahrt, zusätzlich auch an Details der Figur überzeugend gearbeitet hat, der geht auch jenseits der 50 leicht als der Bohemien und Liebhaber durch. Dass Florez ein Höhenritter ist, hat er oft genug bewiesen, ist quasi seine Spezialität, es funktionieren auch alle Spitzentöne bei Puccini, und nur wenige wirken ein bißchen angestrengt. Wenn es in die Mittellage geht, hat die Stimme ihr charakteristisches Rossini-Timbre behalten, und daran wird sich wohl auch nichts mehr ändern. Fülle und Sinnlichkeit sind nicht zu erzwingen. Dennoch, mit den Rodolfo hat Florez (wie mit Verdis Alfredo) neben seinem Kernfach eine Rolle, für die man weltweit händeringend berühmte Interpreten sucht.
Die falsch besetzten Damen sind Nicole Car und Anna Bondarenko, wobei durchaus klar ist, dass die Australierin die Mimi weltweit gesungen hat. (Weil die „Bohème“ eben weltweit gespielt wird.) Aber ihre Stimme ist dramatisch und oft scharf, Legato und tragfähiges Piano scheut sie, stets flüchtet sie in das nächste Fortissimo. So kann keine rührende Sterbeszene gelingen und anderes auch nicht, denn die „Dolcezza“ dieser Figur (in Stimme und Gestaltung) entfaltet sich keinen Augenblick. Nur, wenn Dirigent Giacomo Sagripanti in dramatischen Aufschwüngen wieder einmal zu laut wurde (nämlich oft), da triumphierte sie – auch über ihren Partner.
Die Ukrainerin Anna Bondarenko ist eine Schönheit und schmettert ungehemmt los, aber die Leichtigkeit, der Esprit der Musetta fehlen ihr total. Dafür hatte sie in dem Moldawier Andrey Zhilikhovsky einen besonders stimmstarken Marcello, und auch der Schaunard des Südkoreaners Jusung Gabriel Park sowie der Colline des bulgarischen Basses Ivo Stanchev überzeugten stimmlich. Allerdings kam Stanchev, wenn man so unfair sein darf zu vergleichen, in der Mantel-Arie nicht annähernd an die Intensität heran, die kürzlich Jongmin Park in dieser Rolle in New York spüren ließ.
Ja, der Vergleich. Er macht uns sicher, sagt die Werbung, und er macht auch in der Oper sicher. Das betrifft prozentuell nur einen Bruchteil der Besucher, jene, die unerschütterlich seit Jahrzehnten in die Oper gehen und die meisten Interpreten gehört haben, die gut und teuer waren. Karajan und Kleiber gibt es nicht mehr, ebenso wenig wie Freni und Pavarotti. Aber deshalb dürfen jene, die dennoch immer wieder kommen, doch irgendwann ein wenig Opernwunder erwarten? Zumal von einem Haus wie der Wiener Staatsoper…
Renate Wagner, 16. Dezember 2025
La Bohème
Giacomo Puccini
Wiener Staatsoper
15. Dezember 2025
469. Aufführung dieser Inszenierung
Regie: Franco Zeffirelli
Dirigent: Giacomo Sagripanti
Wiener Philharmoniker