Aufführung am 08.10.2021
Engebettet zwischen die beiden – auch optisch – effektvollen Choreografien von Crystal Pite ist in diesem dreiteiligen Ballettabend des Balletts Zürich die introvierte, sperrige Schöpfung ALMOST BLUE des sensiblen Künstlers Marco Goecke zu erleben. Mit dieser Choreografie verarbeitete Goecke seinen unfreiwilligen Abschied aus der Stuttgarter Compagnie, wo er lange Zeit als Hauschoreograf tätig gewesen war und nach 13 Jahren nicht mehr weiter engagiert wurde. (Inzwischen hat er sich mit dem Stuttgarter Ballett versöhnt und wirkt seit 2019 als Ballettchef in Hannover.) ALMOST BLUE ist also eine ziemlich düster ausgefallene Introspektive auf Gefühlslagen von Trauer, Wut, ja gar Verletzungen, handelt (wie die Liedtexte des – späteren – Transgender-Sängers Antony Hegarty erahnen lassen) von einsamen Nächten, Albträumen, Verlorenheit. Goecke hat diese Gefühle und Ängste mit verstörender, schwierig zu entschlüsselnder Körpersprache der Tänzeinnen und Tänzer umgesetzt. Eckig, ja fahrig, zitternde Arme und Hände, wenige Berührungen. Es sind einsame, verlorene Figuren auf einer leeren, schwarzen Bühne, auf der sie mit Rauchkerzen noch zusätzliches Grauen verbreiten. Manchmal geben die Tänzer gar bellende Laute von sich, scheinen ihren Schmerz nicht nur mit Tanz verarbeiten zu können, da muss noch mehr raus aus den Anspannungen des Körpers. Nur selten finden sie zu fliessenden, poetischen Bewegungen. Die dreiTänzerinnen (Michelle Willems, Greta Calzuola und Lauren Draper) und die sechs Tänzer (Chandler Hammond, Cohen Aitchison-Dugas, Iacopo Aregui, Esteban Berlanga, Jesse Fraser und Danniel Mulligan) setzen die diffizile, kantige und vertrackte Körpersprache mit grandioser Selbstverständlichkeit um. Nach etwa der Hälfte der gut 20minütigen Choreografie wechselt die Musik von Antony and the Johnsons zu Songs der Blues-Legende Etta James. Am Ende fällt Staub vom Bühnenhimmel, die Tänzer werden von einer Staubwolke (dem ganzen Dreck der Erde) quasi verschlungen, kämpfen sich aber wieder durch und hinterlassen Spuren im Sand. Doch die blutende Wunde auf der Brust eines Tänzers bleibt, Verletzungen gehen nicht einfach so weg. Goeckes Schöpfung ist keine einfache Kost, man müsste sie ein zweites Mal auf sich wirken lassen können, um die gesamte Tiefe zu ergründen.
Da machen es einem die beiden Werke von Crystal Pite – EMERGENCE und ANGELS‘ ATLAS – bedeutend einfacher, denn nicht zuletzt durch die spektakulären Bühnenbilder von Jay Gower Taylor und die noch spektakuläreren Lichtdesigns (EMERGENCE: Alan Brodie, ANGELS‘ ATLAS: Jay Gower Taylor und Tom Visser) fesseln die beiden Stücke unmittelbar. EMERGENCE war bereits im Januar 2018 auf der Zürcher Bühne zu bewundern gewesen. Was ich damals schrieb, kann ich nur wiederholen: „Crystal Pite ist eine der ganz wenigen Frauen, welche es an die Spitze der Choreografinnen des zeitgenössischen Tanzes geschafft haben. Ihre 2009 für das National Ballet of Canada entstandene Choreografie EMERGENCE (zur Musik von Owen Belton) sorgte nun auch in Zürich für Begeisterungsstürme. Darin nimmt sie die sozialen Interaktionen eines Insektenstaates (Bienen, Ameisen) unter die Lupe, verwendet sie als Metapher für die Situation innerhalb einer Ballettcompagnie – und damit auch für die Gesellschaft ganz allgemein. Denn sowohl in einer Tanztruppe als auch im alltäglichen Zusammenleben bringt uns nur das Gemeinsame weiter, das Schaffen im Team, wo jeder etwas von seinen Fähigkeiten einbringen kann, das Puzzle des Werdens einer Idee sich aufgrund der individuell eingebrachten Fähigkeiten und Qualitäten der einzelnen Teile sich zu einem vollendeten Ganzen fügt. Das mag nun alles etwas intellektuell klingen, doch Crystal Pites Arbeit, welche von den fast 40 Tänzern des Balletts Zürich mit bestechender Kraft, Synchronizität, Virtuosität und Körperspannung umgesetzt wurde, entfaltet eine ungeheure Intensität. Gebannt folgt man dem choreografischen Einfallsreichtum Crystal Pites, der spannungsgeladenen Umsetzung durch das Ballett Zürich, die man nur in höchsten Tönen loben kann. Da sie alle – eben wie die Insekten – gemeinsam am Erfolg des Ganzen beteiligt sind, kann man gar nicht in Versuchung geraten, einzelne Tänzer herauszuheben, sie sind allesamt eine Wucht! Das reicht vom virtuosen Tanz auf der Spitze der „Weibchen“, wenn sie mit geballter Frauenpower wie eine Wand die muskulösen und dominanten Männer mal zurückdrängen, bis zu den angewinkelten Armen und den unglaublich insektenhaften (und überaus virtuosen) Bewegungen der Masse. Dazu kommt das Bühnenbild (Jay Gower Taylor), welches mit seinen sich nach der Mitte verdichtenden Nadeln ein Nest andeutet, eine Röhre führt dann nach hinten. Durch diese Röhre strömen zu Beginn die Insekten heraus – durch sie kommt am Ende aber auch ein beängstigendes oranges Licht, das alle blendet, bevor dann die Bühne im Dunkel versinkt.“ Auch gestern Abend löste diese hochspannende Choreografie Begeisterungsstürme aus, man staunte über die atemberaubende Synchronizität, über die in den ganzen Körper übertragenen, perfekt zu den stampfenden Rhythmen der elektronischen Musik ablaufenden Zuckungen und Verrenkungen. Und man sinnierte erneut über die Bedeutung des einsamen Insekts (Mannes) in der Röhre nach, der als einziger das grosse Insektensterben überlebt zu haben schien.
In ihrer neuen Choreografie ANGELS‘ ATLAS, die dem Abend den Tittel gab, spürt Crystal Pite erneut grossen Fragen nach. Was passiert zwischen Kosmos und Erde, welche Kräfte wirken, wohin gehen wir. Das Stück mäandert zwischen Mystik und Postapokalypse, faszinierend, ja manchmal beinahe rauschhaft wird man in diesen Kosmos hineingezogen. Auch hier, wie in EMERGENCE, wird nicht an Tänzern gespart, weit über dreissig tanzen vor diesem fantastischen Hintergrund. Jay Gower Taylor und Tom Visser haben eine sensationell wirkende Technik entwickelt: Gebündelte Lichtstrahlen werden auf die Kanten sich bewegender, mit Spiegelfolie überzogener Objekte gelenkt und auf die Rückwand projiziert. So entstehen unglaublich schöne Gebilde, die sich immer wieder verändern. Das hat was von Sternenstaub, kann sich aber für ein Pas de deux auch mal wie zu einem gotischen Tor formen, dann wieder wie Messer aus dem Boden schiessen oder wie Supernovas am Firnament aufleuchten. Aufpassen muss man bloss, dass man vor lauter optischen Spektakels auf dem Bühnenhintergrund nicht vergisst, den wunderschön und hochspannend choreografierten, ausdrucksstarken Bewegungen des mit immenser Kraft und Genauigkeit tanzenden Balletts Zürich und des Junior Balletts die gebührende Beachtung zu schenken, sich vom irdischen Vergehen, das Pite so bewegend inszeniert, berühren zu lassen. Die sakralen Gesänge aus Tschaikowskis Feder, welche mit elektronischen Klängen von Owen Belton und mystischer Musik von Morten Lauridsen gemischt werden, stellen einen wesentlichen Bestandteil für die soghafte Endzeitstimmung dar, in welche uns dieses Gesamtkunstwerk zieht.
Kaum endenwollende Beifallstürme für die Ausführenden.
Bilder © Carlos Quezada
Kaspar Sannemann 14.10.21