Novara: „Il viaggio a Reims“

Aufführungen am 9. und 11.10.15 (Premiere am 9.10.)

Bombenstimmung

Das Teatro Coccia in der 50 km von Mailand gelegenen, aber nicht mehr zur Lombardei, sondern schon zum Piemont gehörenden 100.000 Einwohner-Stadt Novara wird als Dreispartenhaus geführt, das viel mit Gastspielen arbeitet, eröffnet wird die Saison aber immer mit einer im eigenen Haus erarbeiteten Opernproduktion. Die Wahl war diesmal auf Rossinis von Claudio Abbado für Pesaro wiederentdecktes und in der Folge populär gewordenes Werk gefallen, das für ein Theater dieser Größenordnung mit seinem schmalen Budget eine rechte Herausforderung darstellt.

Zu berichten ist aber von einer überaus gelungenen Arbeit, die riesigen Erfolg hatte. Entgegen der Befürchtungen hatte der vom Fernsehen kommende Regisseur Giampiero Solari die richtige Zugangsweise zu dieser als Kantate entstandenen „Oper“ gefunden, indem er einerseits den zahlreichen Personen einer praktisch inexistenten Handlung starkes Profil verlieh, und andererseits mit Hilfe des Bühnenbilds von Angelo Linzalata viel Bewegung schuf: Die drehbare Platte in der Bühnenmitte setzte sich wiederholt in Bewegung, während ein schräg über der Bühnenmitte platzierter Spiegel die Figuren in ihren wunderschönen Kostümen von Ester Marcovecchio zeigten, was sehr hübsche farbliche Effekte ergab. Der Spiegel zeigte aber auch das Spiel der Harfenistin bei der Dichterin Corinna erster Arie (die vom Rang herab erklang) oder ein Porträt Karl X., zu dessen Ehre die Komposition ja geschrieben worden war. Bewegung kam auch von vier Profirollschuhläufern, die elegant als Kellner durch die Gegend flitzten.

Um angesichts der langen Besetzungsliste auf anderer Seite zu sparen, war das Orchester des Konservatoriums „Guido Cantelli“ (der mit 36 Jahren einem Flugzeugunglück zum Opfer gefallene brillante Dirigent stammte aus Novara) engagiert worden. Diese Entscheidung mochte man im Vorfeld mit Skepsis betrachten, denn den Studenten waren nur einige Profis als Pultführer zur Seite gestellt worden. Der Dirigent Matteo Beltrami zeigte aber, was man mit positiv eingestellten jungen Leuten erzielen kann und präsentierte eine Arbeit, die man in Novara nicht so schnell vergessen wird. Die perfekte Maschinerie von Rossinis Einfällen lief auf Hochtouren, es gab keinen Moment des Spannungsabfalls, die Stunde und 40 Minuten des ersten Teils vergingen wie im Flug und wurden von einem so rasanten wie präzisen Finale I gekrönt, das dem Publikum den Beifall förmlich aus den Händen riss. Unter all den ausgezeichneten jungen Leuten ist zusätzlich der brillante zwanzigjährige Flötist hervorzuheben. Die Continuobegleitung war diesmal dem Cello anvertraut (eine von der Musikwissenschaft erst in jüngerer Zeit wiederentdeckte Form der Begleitung, die in Italien bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch geübt wurde ). Fernando Caida Greco kam dieser Aufgabe mit viel Phantasie und Esprit nach. Auch der Coro San Gregorio Magno unter Mauro Rolfi war vokal und szenisch zufriedenstellend vertreten.

Alexandra Zabala aus Kolumbien sang mit samtweichem Sopran eine wunderbar lyrische Corinna ; ihr würde man gerne sehr bald wieder begegnen. Die zweite außerordentliche Stimme war der Mezzo der erst 26-jährigen Teresa Iervolino, die eine temperamentvolle Melibea sang, die sich in ihrem großen Duett mit Libenskof nicht vor ihrer berühmten Vorgängerin Valentini-Terrani zu verstecken brauchte. Der russische General war dem dreißigjährigen Argentinier Francisco Brito anvertraut, der einen nicht sehr umfangreichen, aber schöntimbrierten Tenor hören ließ, der ideal für Rossini war (und mich ein wenig an den unvergessenen Luigi Alva gemahnte). Die andere, nicht minder schwierige Tenorrolle des Belfiore sang Giulio Pellligra mit schon über Rossini hinausreichender romantischer Stimmgebung. Mit unglaublichen, spielend bis zum hohen „g“ reichenden Spitzentönen prunkte die Kubanerin Maria Aleida in der Rolle der Contessa Folleville. Francesca Sassu war eine pikante, in Abwesenheit ihres Gatten dem Flirten nicht abgeneigte Madama Cortese. Elegant trat Paolo Pecchioli als Lord Sidney auf, der seine schwierige Arie, die eigentlich nur Samuel Ramey wirklich perfekt beherrschte, achtbar vortrug. Ein szenisch sehr präsenter Don Profondo war der junge Pietro Di Bianco, der an seinem Stimmumfang noch arbeiten muss. Als Trombonok warf Bruno Praticò seine ganze Buffoerfahrung in die Waagschale. Angenehm in Stimme und Erscheinung war der Don Alvaro von Gianluca Margheri, und das Gleiche gilt für die Vertreter der kleineren Rollen wie Rocco Cavalluzzi (Don Prudenzio), Murat Can Güvem (Don Luigino), Carlotta Vichi (Maddalena), Sofio Janelidze (Modestina), Nicola Pisaniello (Zefirino/Gelsomino) und Stefano Marchisio (Antonio).

Eigentlich hatte ich vorgehabt, nur zur Premiere zu fahren, aber die Vorstellung war ein solcher Genuss, dass ich zur ersten (und einzigen) Reprise wiederkehrte. Auch diesmal war das Publikum ganz aus dem Häuschen, was Beltrami veranlasste, nach einigen Verbeugungstouren der Künstler seine Assistentin Manuela Ranno in den Graben zu schicken, wo sie (auch für die Sänger eine Überraschung) nochmals das den ersten Teil des Werks beendende „Gran pezzo concertato a 14 voci“ anstimmen ließ. Die Sänger, der Dirigent, aber auch der Cellist sangen dieses Glanzstück mit Enthusiasmus noch einmal, woraufhin das Publikums überhaupt nicht mehr zu halten war.

Diese Aufführung und ihr Erfolg werden in die Annalen des Hauses eingehen. Da sie aber auch für das Fernsehen aufgezeichnet wurde, besteht die Hoffnung, sich auf Sky Classic in nicht allzu langer Zeit wieder an dieser Produktion zu erfreuen.

Eva Pleus 14.10.15

Bilder: Mario Finotti