Zürich: „Peer Gynt“

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"Seine (Peer Gynts) Geschichte ist, trotz aller romantischen und ironischen Einkleidung, unsere Geschichte, seine Lieblosigkeit ist unsere Lieblosigkeit, seine im Nihilismus des Alters fast wahnsinnige Hoffnung auf die Unsterblichkeit seiner Seele ist auch in uns noch nicht völlig zum Schweigen gekommen … Für uns wie für ihn ist eine Hoffnung auf Erlösung nur in der Liebe, in der wunderbaren Möglichkeit, dass das Bild, das ein anderer Mensch von uns im Herzen trägt, mehr Liebesbezeugungskraft als die Wirklichkeit besitzt." (Marie Luise Kaschnitz)

Genau zu diesem Kern der Geschichte nun dringt Edward Clug in seiner Choreografie in stimmungsvollen, tiefgründig-poetischen Bildern vor. Ungleich Peer Gynt, der in seinem allegorischen Zwiebelmonolog den Kern seiner Existenz nicht zu ergründen vermag, schafft Eward Clug in seinem 2015 für das Slowenische Nationalballett entstandenen Tanztheaterstück auf beklemmende und zugleich berührende Art Antworten auf die Fragen nach dem existentiellen Sinn des Lebens zu geben. Selbstverständlich mussten für eine Ballett-Adaption von Ibsens Fünfakter weite Teile der Vorlage gestrichen und gekürzt werden. Doch Edward Clug ist dies auf beeindruckende Art und Weise gelungen: Er fasst die Handlung in zwei Akten zusammen. Diese beiden Akte sind in insgesamt fünf grossflächige Szenen unterteilt. Damit folgt er Ibsens dramatischem Gedicht ziemlich genau. Clug schafft es mit seiner einfallsreichen theatralischen Tanzsprache auch, Ironie und Satire einfliessen zu lassen, an manchen Stellen durfte man schmunzeln, so etwa, wenn er Peer in einen dieser ruckelnden Münz-Flieger einsteigen liess, wie wir sie als Kinder vor den Eingängen der Supermärkte vorfanden. Nur schon mit dieser kleinen Episode zeigte er, wie schwer es dem in der präödipalen Phase steckengebliebenen Peer fällt, erwachsen zu werden. Sehr differenziert gezeichnet ist die Beziehung zu seiner Mutter Åse (eindrücklich dargestellt durch Francesca Dell’Aria), eine Beziehung, die bis zum Tod der Mutter im kleinkindlichen Bereich stecken bleibt (sie versohlt ihm noch auf dem Sterbebett den Hintern). Von Unreife geprägt sind all seine Begegnungen mit weiblichen Wesen: Ingrid (mit aparter Mädchenhaftigkeit getanzt von Michelle Willems) entführt er während ihrer Hochzeit mit Mads (Matthew Knight). Der durchtriebenen Anitra (mit orientalischer Erotik: Raffaelle Queiroz) verfällt er mit unglaublicher Naivität. Aus der Beziehung mit der janusköpfigen Tochter des Trollkönigs (die Grüne, grossartig dargestellt von Inna Bilash) stiehlt er sich klammheimlich, als er Verantwortung für das mit ihr gezeugte Kind übernehmen sollte. Die ihn wirklich aus tiefstem Herzen liebende Solveig (Katja Wünsche tanzt sie mit fantastischer Bühnenpräsenz, weit greifenden Armbewegungen und ausgefeilter Beinarbeit) erkennt er erst als Retterin seiner suchenden Seele, als es schon beinahe zu spät ist. Peer Gynt ist also wie eine dunkler, hedonistischer Stern im Firnament, will umkreist und bewundert werden. Dies spiegelt auch die Bühne von Marko Japelj mit ihrer an einen Saturnring gemahnenden Umrandung. Alles soll sich um Peer drehen, das Schicksal in Form eines weissen Hirsches (kraftstrotzend-elegant: Cohen Aitchison-Dugas) und der Tod (herrlich affektiert und slapstickartig trippelnd: Daniel Mulligan) sind seine ständigen Begleiter. Diesem Tod vermag er mehrmals von der Schippe zu springen. Selbst der Aufenthalt in der Irrenanstalt des Doktor Begriffenfeldt in Kairo (eine umwerfende Pantomime von Dominik Slavkovsky) und die Heimsuchung durch die Irren (ungemein virtuos getanzt von Emma Antrobus, Mélissa Ligurgo, Luca Afflitto und Mark Geilings) vermag Peer nicht zu brechen. Die Darstellung dieses Charakters erfordert einen reifen Tänzer der es eben schafft, die Unreife, die Ruhelosigkeit, die Ich-Bezogenheit, die Fantasterei und am Ende die Erkenntnis der echten Liebe darzustellen. Die Compagnie des Balletts Zürich verfügt seit dem Amtsantritt des Ballettdirektors Christian Spuck vor zehn Jahren über den perfekten Mann für diese anspruchsvolle Rolle: William Moore. Er ist mit jeder Faser seines kraftvollen Körpers dieser Peer Gynt: naiv, jungenhaft, egoistisch, frech, unverfroren – und weil wir uns in ihm erkennen, sogar leicht sympathisch.

Clugs Choreografie ist erzählerisch dichtes, poetisches und tiefgründiges Tanztheater – bleibt aber nicht im Pantomimischen stecken. Er fordert von den Tänzern ein reichhaltiges Bewegungsvokabular, findet zu sehr schönen, einfallsreichen Gruppentänzen (Ingrids Hochzeit mit den Holztrümeln und dem Auftritt von Lucas Valente als kraftstrozendem Schmied), die orientalischen Tänze mit den Teppichen und den Sarkophagen, die witzig-wuchtigen Szenen bei den Trollen. Hier beeindruckte Jesse Fraser als imposanter Trollkönig. Lustig gestaltet war auch Peers Begegnung mit den drei Sennerinnen (Marta Andreitsiv, Chandler Hammond, Daniela Thorne), die er an ihren langen Haarzöpfen wie ein Pferdegespann führte. Etwas Rätselhaft-Phantastisches hatte Solveigs Schwester, Klein Helga (gekonnt hopsend: Aurore Lissitzky), die im Häschen-Kostüm auftreten musste. Die stimmigen Kostüme entwarf Leo Kulaš, für die manchmal etwas dunkle, aber eine mysteriöse Stimmung evozierende Lichtgestaltung zeichnete Tomaž Premzl verantwortlich.

Clug hat für seine Choreographie ausschliesslich Musik von Ibsens Landsmann und Zeitgenossen Edvard Grieg ausgewählt. Neben den Ausschnitten aus Griegs Bühnenmusik zu Peer Gynt erklangen Sätze aus dem 1. Streichquartett, dem Klavierkonzert, den Lyrischen Stücken, ein norwegischer Tanz und ein Teil aus der Suite Aus Holbergs Zeit. Der Pianist Adrian Oetiker brillierte im Adagio des Klavierkonzerts und den Lyrischen Stücken mit Innigkeit und im dritten Satz des Klavierkonzerts mit Virtuosität. Die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Victorien Vanoosten zeichnete differenzierte musikalische Stimmungsbilder zu den verschiedenen Schauplätzen. Auf das (neben der Morgenstimmung) populärste Stück aus der Peer Gynt Suite, nämlich Solveigs Lied, wartete man allerdings vergeblich. Denn Clug benutzt für die letzte Szene nur die vierminütige Melodie op. 47 aus den Lyrischen Stücken. Solveig trägt (gleich Jesus das Kreuz) eine Tür auf dem Rücken. Durch diese Tür geht Peer. Endlich ist er mit Solveig vereint – und dieser Pas de deux der beiden gealterten Menschen, die endlich zueinander gefunden haben, ist von ergreifender Kraft, der Staub fällt wortwörtlich von den beiden ab, noch einmal blüht jugendlicher Elan auf. Wenn die beiden dann im hellen Licht, das sie aus dem Jenseits willkommen heisst, gemeinsam unter dieser Tür stehen, muss man doch noch eine kleine Träne verdrücken.

P.S.: Es schadet nicht, wenn man sich als Vorbereitung auf den Ballettabend ein wenig mit Ibsens Dramen-Vorlage beschäftigt … .

(c) Batardon

Kaspae Sannemann, 23.5.22