Buchkritik: „Eine kurze Geschichte der Oper“, Hans-Klaus Jungheinrich

Eher kurze Geschichten von Opern als eine Kurze Geschichte der Oper in 35 Bildern sind die zweite Auflage von Hans-Klaus Jungheinrichs Opernführer, die der Autor nicht mehr selbst vollenden konnte. Vor zehn Jahren erschien das Werk unter dem Titel „Hohes C und tiefe Liebe“, hatte nicht den gewünschten und erhofften Erfolg und erscheint nun immerhin neu bearbeitet, mit zusätzlichen Kapiteln zu Henze und Rihm und einem aufschlussreichen Nachwort von Wolfgang Molkow.

Jeweils eine Oper wird in den einzelnen Kapiteln vorgestellt, wobei der Belcanto keine Rolle spielt, das 19.Jahrhundert recht schnell verlasen wird mit nur einer Verdi- und einer Wagneroper, Slawisches mehr vertreten ist als Italienisches, Unbekanntes genauso häufig wie übermäßig Bekanntes.

Einleitend stellt der Verfasser fest, dass moderne Regie wie die von Neuenfels die Oper von dem Vorwurf befreit habe, sie beschäftige den Geist nicht angemessen, dass die Händelrenaissance erst im zweiten Anlauf glückte und durch Übertitel ein erheblicher Fortschritt erzielt worden sei. Offensichtlich ist seine Position eine zwischen Profilneurotikern und Werktreue-Orthodoxen, er streift das Thema Homosexuelle als Opernpublikum oder die Optik als Hinwegtäuscher über stimmliche Mängel anhand von Felsensteininszenierungen und den vokalen Leistungen der Sopranistin Anja Silja. Seine 35 Lieblingsopern hat der Autor in das Buch aufgenommen, der sich in jeder Zeile seines Buchs als der Gattung leidenschaftlich zugetan erweist und der zu Recht betont, dass sein Buch keinen Opernführer ersetzen kann und nichts für unvorbereitete Leser ist. Und keinesfalls sollten diese darauf hoffen, sie könnten die Geschichte der Oper durch das Betrachten von Fotos erfahren. Davon gibt es kein einziges. 

Über den einzelnen Kapiteln steht neben dem Titel der jeweiligen Oper entweder eine kurze Meinungsäußerung, ein Hinweis auf einen aktuellen Anlass oder ein bestimmtes Ereignis, das mit ihm zusammenhängt, als Einstimmung.   

Nach dem Lesen der ersten Kapitel wird klar, dass im Mittelpunkt der Betrachtungen weniger die Musik als das Libretto, die Entstehungs- oder Rezeptionsgeschichte stehen, im Fall von Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“ sogar die Entstehung der Gattung als solcher. Besetzungsfragen wie die Untersuchung der Formelemente, die Rolle der Götter in den frühen Werken werden anschaulich und unterhaltsam dargestellt. Bei Glucks Orphée stehen generell der Orpheus-Mythos, der Begriff „Reformoper“ und Fragen der Tonartencharakterisierung im Vordergrund. Persönliche Kindheitserfahrungen fließen in die Ausführungen zur Zauberflöte ein, heutige Steine des Anstoßes wie Frauenfeindlichkeit- und das N-Wort waren beim Erscheinen der Erstauflage wohl noch nicht der Verdammung anheimgefallen. Unterschiedliche Regieansätze spielen eine Rolle und Hinweise wie der auf Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag. Wird das Kapitel über Fidelio zur Lobpreisung des schlichten Librettos, so das über die Meistersinger zur Feststellung der Fatalität der C-Dur-Tonart. Eher vage ist die Stellungnahme zum Schlussmonolog des Sachs, da versagt sich der Autor immerhin nicht dem allgemeinen Bedenkenäußern, ohne dass es heute mehr denn vor zehn Jahren nicht geht.

Kritisch wird es mit dem Übergang zu italienischen Opern, die der Verfasser nicht so gut kennt wie das sonstige Repertoire, denn sonst könnten folgende Irrtümer nicht Eingang in das Buch gefunden haben: Gilda im Rigoletto geht keinen „passiven Schmerzensweg“, sondern opfert sich sehr aktiv für den treulosen Duca, der Messner in Tosca wiegelt die Ministranten nicht gegen Cavaradossi auf, Musetta ist nicht damenhaft, Anna in Le Villi ist nicht Heilige und Hure, Liù lässt sich nicht abschlachten, sondern tötet sich selbst, Butterfly hat Pinkerton nicht viele „glühende Liebesbriefe“ geschrieben, Sharpless ist nicht „schwammig wie sein Name“, sondern nimmt mehrmals gegen Pinkerton Stellung, nicht die Ehe wurde für 99 Jahre geschlossen, sondern der Mietvertrag, Pinkerton hat durchaus Vornamen, nämlich Benjamin Franklin, das Kind tritt nicht nur einmal, sondern zweimal auf. Und dass Kate Pinkerton unfruchtbar ist, dürfte nach so kurzer Ehe auch nicht erwiesen sein. Das alles mögen kleine Ungenauigkeiten sein, die aber doch das Vertrauen des Lesers in den Text, soweit er dessen Wahrheitsgehalt nicht überprüfen kann, etwas mindern.

Besonders im Kapitel über Carmen wird deutlich, dass der Autor durchaus zu Recht den Anspruch erheben kann, als Wissenschaftler ernst genommen zu werden, dass aber auch zum Vorteil des auf Unterhaltung bedachten Lesers starke essayistische Tendenzen in seinem Text enthalten sind. An Nietzsches Seite stellt er sich, wenn er in der französischen Oper einen Gegensatz zum Tristan und zu den Meistersingern, „mühevoll und handwerksfleißig“ entstanden, sieht. Und stammen Don José und Micaela aus dem Baskenland? Das wäre eine lange Reise für das junge Mädchen gewesen, dessen Tracht unmissverständlich im Libretto Navarra zugeordnet wird. 

Interessant sind die Ausführungen zum Thema, warum gerade die Dialoge der Karmeliterinnen einen Platz im Repertoire gefunden haben, inwieweit Opern aus anderen Schreckenszeiten eine besondere Art der „Bewältigung des Ausschwitzsyndroms“ sein könnten, welche Vergleichsmöglichkeiten es zwischen Poulenc und Julien Green geben könnte, beide katholisch und homosexuell. Auch in diesem Kapitel geht es weniger um die Musik als um die Werkstruktur.

Weit mehr Raum als auf den Spielplänen wird der zeitgenössischen Oper im Buch eingeräumt, was Henze betrifft nicht nur einem, sondern dem Gesamtwerk. Vom Jungen Lord bis zum L’Upupa reichen die Ausführungen, die in Henze einen Komponisten sehen, der „jungen Wein in alten Schläuchen“ hervorbrachte. Des Komponisten Dichterlibrettisten stehen auch hier eher im Mittelpunkt als die Musik, die Spiegelung zeitgenössischer Probleme im Spiel von Verkleidung und Entlarvung.

„Hineingewachsen in das Altern der neuen Musik“ ist für den Autor der Komponist Lachmann, dem „Wiederholungsverbot der Moderne“ unterworden. In diesem Kapitel geht es sehr viel um die Musik, um das Andersen-Märchen als Metapher für Gudrun Ensslin, und der Verfasser meint, solange es „Theater gibt, die Werke wie diese sich und ihrem Publikum zum Prüfstein machen, ist die Opernkultur noch am Leben.“

Sehr interessant ist das Nachwort, auch weil es gleichermaßen zur Zustimmung (lieber Cornelius‘ Barbier als zum 100. Mal der Rossinis) wie zum Zweifel (Lohengrin und Tannhäuser kitschverdächtig) anregt und weil der vielgescholtene Richard Strauss gegenüber Adorno in Schutz genommen wird. Im Buch ist er übrigens mit drei Werken vertreten.

Ingrid Wanja 16. Juni 2023 


ISBN 978 3 95593 254 1

Wolke Verlag 2021, 295 Seiten, 2. erweiterte Auflage