Landshut: „La traviata“

Mitreißende Verdi-Premiere im Opernzelt

Die meisten deutschen Opernhäuser widmen einem Jubilar lediglich eine Neuproduktion in der betreffenden Saison. Eine rühmliche Ausnahme von diesem Regelfall stellt das Landestheater Niederbayern dar, das nach seinem gelungenen „Rigoletto“ im vergangenen Herbst die Spielzeit nun mit einem weiteren Werk Verdis, dessen Geburtstag sich 2013 zum 200. Male jährte, beschloss und damit in jeder Beziehung einen großen Erfolg für sich verbuchen konnte. Bereits am 14. 6. in Passau aus der Taufe gehoben, war die Neuinszenierung der „Traviata“ nun auch in Landshut zu sehen. Die dortige Premiere am 19. 6. war in jeder Beziehung mitreißend. Die klug durchdachte Inszenierung formierte sich mit den hervorragenden musikalischen und gesanglichen Leistungen zu einer eindrucksvollen, stimmigen Symbiose von großem Glanz. Als Spielstätte diente das Opernzelt, das man noch aus Heidelberg in bester Erinnerung hat, und das nun in Landshut steht, solange das dortige Theater renoviert wird.

Tine Schmidt (Tänzerin), Anna Sohn (Violetta), Pim Veulings (Tänzer)

Einen modernen Zuschnitt wies die Inszenierung von Gastregisseur Amir Hosseinpour auf, der auch für die gelungene Choreographie verantwortlich zeigte. Er hat Verdis Oper zusammen mit seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Andrea Hölzl in ein überzeugendes zeitgenössisches Gewand gekleidet. Frau Hölzl hat sich bei der Gestaltung des Raumes augenscheinlich von Damien Hirsts Kunstwerk „In this terrible moment“ inspirieren lassen. Wenn das Publikum den Zuschauerraum betritt, ist der Vorhang bereits geöffnet. Man erblickt eine riesige Apotheke mit integrierter Intensivstation, deren Wände von Regalen mit mannigfaltigen Medikamenten gesäumt sind. Letztere werden später auf dem ganzen Boden verteilt. Wenn sich im Lauf des Aktes die Hinterwand öffnet, erschließt sich dem Blick das Pixel-Bild eines weiblichen Gesichtes mit einem überdimensionalen Mund in kräftigem Pink. Dieses dem ältesten Gewerbe der Welt entsprechende Sinnbild sündigen Begehrens steht im Gegensatz zu einer echten, tief gefühlten Liebe. All die hier aufgereihten Arzneien vermögen indes das Leben der auf einer nüchtern anmutenden Krankenliege ihrem nahen Ende entgegensehenden Violetta nicht mehr zu retten. Sie befindet sich bereits an der Schwelle zum Tode. Dr. Grenvil und eine an ihrem Bett wachende Ärztin können nichts mehr für sie tun. Die Sinuskurve auf dem EKG-Gerät, an das Traviata angeschlossen ist, ist nur noch schwach. Sie liegt in den letzten Zügen und erlebt das Ganze als Rückschau. Alles spielt sich aus ihrer Perspektive ab. Sie erhebt sich vom Krankenbett und durchläuft mit ihren letzten Geisteskräften noch einmal ihre Vergangenheit.

Anna Sohn (Violetta

Dass Violetta hier von Anfang an dem Tode geweiht ist, ergibt sich schon aus Verdis Musik – genauer aus dem Vorspiel, das die Einleitung zum unheilschwangeren dritten Akt vorausnimmt. Da hat Hosseinpour genau hingehört. Auch im Folgenden inszeniert er stark aus der Musik heraus, ohne dabei seine ansprechende Grundkonzeption aus den Augen zu verlieren. Eine von der Regie in die Gegenwart verlegte Handlung, die dennoch in gänzlichem Einklang mit der Partitur steht: das ist heutzutage eher eine Seltenheit und legt beredtes Zeugnis von den hohen Fähigkeiten des Regisseurs ab. Auch äußerlich lässt er keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Protagonistin ihrer Tuberkuloseerkrankung erliegen wird, wenn er und Frau Hölzl alle anderen Beteiligten in schwarze Gewänder hüllen und den aus den geöffneten Apothekenregalen hervorlugenden Chor obendrein mit dunkel geschminkten Gesichtern vorführen. Diese unheimlichen Boten des Todes machen einen recht makabren Eindruck und rücken das Ganze an die Schwelle zur Surrealität. Auf ihrem Sterbeweg begleitet wird Violetta von einem Tänzer und einer Tänzerin, durch die das Geschehen gekonnt auf eine allegorische Ebene gehoben wird. Der Mann, gleich den Choristen schwarz geschminkt, repräsentiert die Masse der gesichtlosen, anonymen Freier der Titelfigur, die Frau ist zum Einen als ihr Alter Ego aufzufassen – beide tragen manchmal dasselbe lila Kleid -, erscheint zum anderen aber auch häufig als Jungfrau Maria. Traviata hat ein ganz inniges Verhältnis zur Mutter Gottes und tut es damit ihrem historischen Vorbild Marie Duplessis gleich, mit dem sie bei Hosseinpour gleichsam zu einer Einheit verschmilzt. Die beiden Tänzer sind zwar nicht durchweg präsent, erscheinen im Laufe der Aufführung aber immer wieder als Antipoden und versuchen jeweils Violetta auf ihre Seite zu ziehen. Er lockt sehr weltlich mit Schmuck, sie mit dem Kreuz als Verheißung von Himmelsglück. Es ist der ständige Kampf Gut gegen Böse, der hier auf einem metaphorischen Terrain ausgetragen wird.

Anna Sohn (Violetta), Chor

Darüber hinaus wartet Hosseinpour auch mit einem gehörigen Schuss Gesellschaftskritik auf. Nachdrücklich stellt er das Verhalten eines fragwürdigen Kollektivs an den Pranger, das nur dem Starrummel lebt und dem in einem Gala-Heft abgebildeten, das Brindisi des Anfangs in ein Mikrophon singenden Pop-Star Violetta keine Ruhe lässt. Selbst im Sterben wird ihr von ihren Fans keine Privatsphäre zugestanden. Das einzige Mitglied dieser Gemeinschaft, das eine positive Entwicklung durchläuft, ist der einen eleganten schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte tragende sowie mit einem Aktenkoffer auftretende Geschäftsmann Germont, der Traviata im zweiten Akt zur Untermauerung seiner Forderung auf einem Flachbildschirm eine Photo-CD vorführt, die seine Tochter in verschiedenen Lebensaltern, als Kind mit Pony, am Klavier und schließlich als Studentin zeigt – ein eindringliches Bild. Violetta kontert verzweifelt mit Babykleidern, die sie und Alfredo sich vorsorglich schon einmal angeschafft haben. Der Kinderwunsch als Ausdruck eines ihrer todbringenden Krankheit entgegengesetzten Lebensoptimismus: ein hervorragender Einfall, der tief in ihr Seelenlieben blicken lässt. In dieselbe Richtung geht im dritten Akt die Szene, in der sie mit Hilfe der beiden Tänzer ihre Hochzeit mit Alfredo imaginiert und dabei ständig ihr Double zu vertreiben sucht. Neben solchen psychologischen versteht sich der Regisseur auch auf Tschechowsche Elemente: Im dritten Akt sieht man Germont denselben Brief schreiben und vorlesen, den Violetta gerade von ihm erhalten hat und dessen Inhalt sie mit stummen Lippenbewegungen ebenfalls formt. Das „È strano“ singt sie nicht als Monolog, sondern als Bitte um Rat an die Ärztin. Manchmal gönnt Hosseinpour den Handlungsträgern Auftritte an Stellen, wo diese von Verdi gar nicht vorgesehen sind, was die szenische Spannung immens steigert. Ein echter Coup de Théatre gelingt ihm am Ende, an dem er Traviata einen symbolischen Tod sterben lässt: Die Jungfrau Maria erscheint, nimmt sie sacht an der Hand und führt sie von der Bühne – derjenigen des Lebens. Das EKG zeigt jetzt eine Nulllinie. Auch das ein starkes Bild, das seinen Eindruck nicht verfehlte.

Anna Sohn (Violetta), Pim Veulings (Tänzer)

Vorzüglich waren die musikalischen Leistungen. Dazu dürfte der Fakt, dass die prachtvoll und gut gelaunt aufspielende Niederbayerische Philharmonie nicht in den engen Orchestergraben des Landshuter Theaters gezwängt war, sondern in dem ungleich größeren des Theaterzeltes ihren Platz gefunden hatte, erheblich beigetragen haben. Die Akustik dort ist nach wie vor phantastisch – daran hat sich seit Heidelberg nichts geändert -, was den Klang sich frei und ungehindert über den ganzen Raum ausbreiten ließ. Der Eindruck war enorm. Da konnte sich das Können von GMD Basil H. E. Coleman voll und ganz entfalten. Er animierte die Instrumentalisten zu einem intensiven, emotional eingefärbten und differenzierten Klang und erzeugte zudem eine abwechslungsreiche Farbpalette. Oft nahm er das Orchester in bedächtiger Art und Weise zurück, verstand es aber insbesondere bei den Ensembleszenen ebenso gut, es gehörig aufzudrehen.

Kyung Chun Kim (Germont), Anna Sohn (Violetta)

Auf hohem Niveau bewegten sich auch die gesanglichen Leistungen. Wieder einmal wurde offensichtlich, dass an den kleinen Opernhäusern wahre vokale Schätze schlummern. Das an diesem mehr als gelungenen Nachmittag aufgebotene Ensemble erwies sich fast durch die Bank größerer Bühnen würdig. Das begann schon bei der jungen koreanischen Sopranistin Anna Sohn, die eine absolut erstklassige Violetta war. Darstellerisch legte sie ihre Rolle etwas sensibel und verletzlich an und bewies dabei eine ausgeprägte schauspielerische Ader. Gesanglich vermochte sie in erster Linie mit den vorbildlich italienisch fokussierten, prägnanten Koloraturen und der Höhensicherheit des wunderbar und mit großer Sicherheit gesungenen „Sempre libera“ wie auch durch die große Gefühlsbetontheit ihres Vortrags zu begeistern. Neben ihr gab Jeffrey Nardone einen von der Regie etwas kühl angelegten Alfredo, für den er sich mit perfekt sitzendem, kraftvollem Tenor stimmlich als gute Wahl erwies. Einen wunderbaren, frischen und sonoren Bariton bester italienischer Schulung mit hohem Ausrucksspektrum brachte der ebenfalls noch junge Kyung Chun Kim für den Germont mit, dem er auch darstellerisch ein glaubhaftes Profil verlieh. In der Doppelrolle der Flora und der Annina bewährte sich mit angenehmem Mezzosopran Kara Harris. Von Michael Wagners voll und rund singendem Dr. Grenvil hätte man gerne mehr gehört. Heimar Ostermeier brachte für den Gastone und den Giuseppe kräftigeres Stimmmaterial mit, als man es von Vertretern dieser kleinen Rollen sonst gewohnt ist. Oscar Imhoff war ein solider Baron Duophol. Diese Bass-Rolle sollte aber nicht mit einem Tenor besetzt werden. Da stimmte der Klangeindruck ganz und gar nicht. In der Mittellage ordentlich, zur Höhe hin etwas dünn präsentierte sich Michael Kohlhäufl in der kleinen Partie des Marquis d’ Obigny. Da wirkte Franziskus Rohmert als Bote und Diener Floras vokal etwas profunder. Ein Extralob gebührt den beiden Tänzern Tine Schmidt und Pim Veulings, die Herrn Hosseinpours ausgefeilte Choreographie einfach grandios umgesetzt haben. Auch der von Christine Strubel einstudierte Chor des Landestheaters Niederbayern zeigte sich in guter Verfassung.

Fazit: Wieder einmal hat sich der Wahlspruch „Verachtet mir die kleinen Häuser nicht“ voll und ganz bestätigt. Auf diese phänomenale, geradezu preisverdächtige „Traviata“ des Landestheaters Niederbayern, deren Besuch jedem Opernfreund dringendst ans Herz gelegt wird, können sogar große Opernhäuser neidisch werden.

Ludwig Steinbach, 21. 6. 2014
Die Bilder stammen von Peter Litvai.