Wien: „Toteis“, Manuela Kerer

Berauschende erdrückende Klangfülle

Die Neue Oper Wien realisierte dieses Auftragswerk der Stiftung Haydn von Bozen und Trient in Koproduktion mit den Vereinigten Bühnen Bozen als österreichische Erstaufführung in pandemiereduzierter Orchesterfassung am 15.9. auf der Bühne des Theaters Akzent der Arbeiterkammer Wien.

Im Mittelpunkt der Oper „Toteis“ (Libretto: Martin Plattner 1975*) steht das Leben der österreichischen Frontsoldatin Viktoria Savs (1899-1979), die ihr rechtes Bein während des Ersten Weltkriegs verlor. Der Begriff „Toteis“ bezeichnet ursprünglich Gletschereis, das sich vom aktiven Gletscher losgelöst hat. In der Oper wird es zur Metapher für das an der Front verlorene Bein von Viktoria Savs. Die ersten beiden Akte spielen während des Herz-Jesu-Wochenendes 1967. Bei einem Veteranentreffen unter Feldmarschall Eugen soll die Schlacht von 1917 nachgespielt werden, wobei die Hauptrolle, zum Ärger von Viktoria, statt von Luis nun von der Wirtin Karola dargestellt wird. Alkoholexzesse und Männlichkeitsrituale kennzeichnen dieses „Spiel“ sowie Viktorias lesbische Beziehung zu ihrer Adoptivtochter „Lotti“. Der „Soldat“ Hansl wird wegen mangelnder Stärke und Männlichkeit von Luis und den Veteranen grausam misshandelt. Im 3. Akt erfolgt eine Rückblende in das Kriegsjahr 1917. Der Schuster Peter ist gemeinsam mit seiner Tochter Vikerl. Die alternde Kriegsheldin Viktoria begegnet ihrem früheren Ich: Vikerl. Realität und Fiktion verschwimmen. Sie weiß nicht mehr, was damals passiert ist. Hat sie sich ins Bein geschossen, um zur Heldin zu werden oder war es ein Felssturz? Die Wahrheit bleibt verborgen, so wie der Neuschnee alles zudeckt. Der Epilog am Herz-Jesu-Sonntag 1967 zeigt Viktoria und „Hansl, vereint im Anderssein, abgetrennt vom Ganzen, wie Toteis. Viktoria Savs, die vom NS-Regime als besondere Heldin für ihre Propagandazwecke vereinnahmt wurde, war bereits 1933 der in Österreich illegalen NSDAP beigetreten. Sie stirbt am 31.12.1979 und wird mit allen militärischen Ehren in Salzburg beigesetzt.

Die Musik von Manuela Kerer beginnt mit einer Klangexplosion in der Art einer „Anakrousis“, welche die nötige Stille schöpft, bevor man in die unerhörten Klangwelten der Komponistin einsteigt. Der Aufbau erinnert dabei entfernt an die attische Tragödie, bei der nach dem Einzugslied des Chores (Parodos) einander Epeisodion (Schauspielerpartie) und Stasimon (Chorlied) abwechseln. Wie die spärlichen Fragmente altgriechischer Musik uns eine völlig unbekannte sphärische Klangwelt eröffnen, so führen uns Karers musikalische Ausdrucksmittel von den tiefsten Tönen der Tuba bis hin zu schmervollen Glissandi und gleißenden Flageoletts der Streicher. Für ihre Musik hat die Komponistin aber auch die Marschmusik und Volkslieder aus der Zeit des ersten Weltkriegs genau studiert und als einzelne Zitate in ihre Komposition einfließen lassen. So das Kinderlied „Maikäfer, flieg…“ oder einen langsamen Jodler aus der ladinischen Operette „Le scioz de San Jenn“ (Der Schatz des Heiligen Johannes) von Jepele (Josef) Frontull (1864-1930), dem Urgroßvater der Komponistin.

Regisseurin und Bühnenbildnerin Mirella Weingarten stellte eine in vier Abstufungen gegliederte riesige Gletscherlandschaft auf die Bühne, in der sich die Veteranen in Gestalt des Wiener Kammerchors, bestens einstudiert von Bernhard Jaretz, und die Protagonisten mit allerletzter Kraft emporhanteln. Diese Eis- und Felsformationen aus dem Dolomitenkrieg sind vom Blut der Gefallenen verschmiert. Die Tristesse dieser Mondlandschaft wurde durch Kostüme von Julia Müer und zusätzlich durch das Lichtdesign von Norbert Chmel aufgelockert.

Walter Kobéra am Pult des amadeusensemble-wien gelang bei der Umsetzung des traditionell zusammengesetzten Orchesters samt seiner gewaltigen Schlagzeugbatterie eine äußerst konzentrierte Verdichtung des knapp 90-minütigen Klanggeschehens. Isabel Seebacher beherrschte als schaurige Viktoria die Bühne mit hochdramatischer Stärke in den höchsten Registern. Verena Gunz glänzte in der Doppelrolle als Wirtin Karola und dem „Vikerl“, der jugendlichen Viktoria. Bernhard Landauer erschütterte als sadistisch gequälter Hansl mit durchdringenden Countertenor.

Alexander Kaimbacher schlüpfte in so unterschiedliche Rollen wie den Festredner und Säufer Luis und in die des Kriegsversehrten und den Schuster und Vater Peter Savs. Klemens Sander konnte mit einigem Geschick auch die Rolle des Feldmarschalls Eugen beleben. Christian Balzamà führte waschechte Tiroler Schuhplattler vor, die in einem gespenstischen Kontrast zum sonstigen Bühnengeschehen standen. Der Abend endete mit betroffenem Stillschweigen, das Gehörte musste von einem über die Maßen geforderten Publikum wohl erst verarbeitet werden. Der verspätet einsetzende Applaus verteilte sich dann aber gleichmäßig auf alle Mitwirkenden.

Harald Lacina, 20.9.

Fotocredits: Alessia Santambro