Sankt Pölten: „Sonne“, Ballett von Doris Uhlich

Seitdem die Erde nicht mehr flach ist, dreht sich alles um mich. So lässt Doris Uhlich ihre „Sonne“ erzählen. In der Uraufführung ihrer jüngsten Arbeit beleuchtet sie eine Fülle von mit unserem Stern direkt zusammenhängenden oder assoziierbaren Aspekten.

(c) Gerd Schneider

„Sonne“ war die zentrale Aufführung des St. Pöltener Parts der erstmals durchgeführten „Choreographic Platform Austria“ (CPA), die fürderhin alle zwei Jahre einen Einblick in das zeitgenössische Tanz- und Performance-Schaffen österreichischer oder in Österreich ansässiger KünstlerInnen ermöglichen soll. Erstmalig ausgerichtet, in diesem Jahr vom brut Wien, dem Festspielhaus St. Pölten und dem Tanzquartier Wien, wurden an drei Tagen im Rahmen eines dichten, leider teils auch parallelisierten Programms Arbeiten von namhaften, auch international tätigen einheimischen Choreografen und Kompanien live, per Film-Screening oder per Pitching-Sessions präsentiert.

Sie schwebt von oben in die Szene, inspiriert vom Film „Le Roi danse“. Licht auf der Rückwand und Sound durchflackern das Dunkel wie Gas und Energie das frühe Universum. Zuckend, rollend gebiert sie den Stern, rotiert. „Hier bin ich. lch war da, bevor ihr da wart.“ So spricht die Sonne. Die beobachtet die Erde, liebt das Spiel mit DNA, berührt jeden. Aber bleibt unberührbar.

Ein Kind, ihr Alter Ego und die Zukunft zugleich, die etwa 8-jährige Romy Nagl, kommt und spielt mit einem blauen Gymnastikball, singt ein Kinderlied. Unbekümmerte, kindliche Naivität, Lebensfreude, Sorglosigkeit. Damit beginnt der lange Reigen von textlich, musikalisch und performativ angesprochenen Themen.

(c) Gerd Schneider

Doris Uhlich hat umfangreich recherchiert. Inspirationsquellen waren ihr wissenschaftliche, philosophische und Science-Fiction-Literatur, ihre eigene Kindheit, Mythologie, Kunst- und Kulturgeschichte, bildende Kunst, Tanzgeschichte, Astrophysik und Kosmologie. Psychologie, Zeit, Religion und gesellschaftliche Konditionierungen wirken hinein in diese sehr komplexe Arbeit. Neben der sich verschärfenden Klimakrise spricht sie über unsere sich wandelnde Wahrnehmung der Sonne. Aus Anbetung, Anmaßung und Kritiklosigkeit werden Vorsicht, Angst und Feindseligkeit. Die ihr zugeschriebene Aggressivität zum Beispiel wird als vom Einzelnen und der Gesellschaft abgelehnte Verantwortung für die Wirkungen menschlichen Tuns auf der Erde beschrieben.

Und wie nähert sich Doris Uhlich ihren Themen tänzerisch-performativ? Sie dreht sich um die eigene Achse wie rotierende Himmelskörper, sie zieht ihre Kreise wie Planeten um ihre Sonnen, sie stößt die Beine von sich wie Eruptionen von Plasma, sie pulsiert und bewegt sich in Wellen wie Licht und Energie der Sonne, sie schippt den Rauch, als würde sie umweltschädigendes Verhalten territorial verlagern oder verschleiern wollen. Sie spricht, flüstert, singt und schreit. Und sie stellt sich gegen Ende nackt und breitbeinig über einen in rotem Licht rauchenden Ventilator. Lebenspendende und vernichtende Energie. Theaternebel aus Schläuchen und Ventilatoren simuliert rauchende Schlote, massive menschengemachte Emissionen, beginnend mit ihrem Körper, der aus dem Shirt heraus qualmt, und von der Sonne ausgeworfene Plasma- und Strahlungsströme.

Der Sound von Boris Kopeinig begleitet die Performance mit Rauschen und wabernden Flächen über Popsongs bis zu dröhnenden Beat. Eingeflochtene Stille erhöht die Spannung. Im Hintergrund installierte Kugelsegmente (Bühnenbild: Juliette Collas), die auch als Rampen performativ genutzt werden, deuten das Innere an. Das der Sonne, das des Sonnensystems, das der beiden Performerinnen, das der Mitverantwortung für Klimawandel, nachfolgende Generationen und die Schöpfung als Ganzes. Eine fahrbare Lichtsäule macht sie zum Sinnbild für die Strahl- (und Blend-) Kraft unserer selbst.

(c) Gerd Schneider

Das Team Uhlich/Kopeinig führt „Sonne“ in ein furioses, apokalyptisches Finales. Rotes Deckenlicht weitet sich bis in den Saal hinein aus wie das Aufblähen unseres sterbenden Sterns zum roten Riesen, der schließlich auch die Erde verschlingt. Spuckend und schreiend stirbt der Uhlichsche Stern in hämmerndem Getöse, endet als Zuckendes schwarzes Löchlein auf dem Boden.

Das Kind betritt die Bühne, stapft in den viel zu großen gelben Stiefeln seiner sonnigen Mutter nach vorn, schreit mit gesenktem Kopf seine Wut, Hilflosigkeit und Trauer als berührende Anklage in den Saal. Es rezitiert den Text des 1985 erschienenen Songs „Letztes Biest (am Himmel)“ von Blixa Bargeld, der darin auf den Himmelskörper und letztlich sich selbst verweist. Seine Verzweiflung scheint zeitlos. Der poetische Hilfeschrei eines um seine Zukunft fürchtenden Kindes.

Nähme der Sonnenwind noch einige textliche Banalitäten mit sich in das Dunkel des Alls, führte eine damit einhergehende auch performative Verdichtung das Stück zu mehr emotionaler und mentaler Gewalt. Das Potential dazu hat es.

Rando Hannemann 28. Oktober 2023

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)


Sonne
Ballett von Doris Uhlich

St. Pölten Festspielhaus
20. Oktober 202

Konzept, Choreografie: Doris Uhlich
Performance: Doris Uhlich, Romy Nagl
Sound von Boris Kopeinig