Bad Hersfeld: „A Chorus Line“, Marvin Hamlisch

© BHF/ Johannes Schembs

Sie stehen oft in der zweiten oder dritten Reihe, die Tänzerinnen und Tänzer der „Chorus Line“. Darunter versteht man im Showbusiness die Gruppe von Darstellern, die als möglichst homogenes Ensemble den Rahmen für den eigentlichen Show-Act bildet. Ihre Aufgabe ist es unter anderem, den Star der Produktion ins Rampenlicht zu rücken, ohne selbst besonders aufzufallen. Man könnte auch sagen: Bitte nicht aus der Reihe tanzen. Der Name stammt aus den Revuen der 20er Jahre, in denen der Chorus tatsächlich oft in einer langen Reihe tanzte. Als Anfang der 70er Jahre die Situation für viele Tänzerinnen und Tänzer nach zahlreichen Theaterschließungen am Broadway besonders schwierig war und sich die Zeit der großen Tanzmusicals dem Ende zuneigte, kamen einige Künstler auf die Idee, selbst ein Musical zu produzieren, das ihre eigene Situation thematisieren sollte. Schnell war mit einem großen Team die Grundidee gefunden, ein Vortanzen auf die Bühne zu bringen und die Darsteller aus dem Hintergrund in den Vordergrund zu stellen. A Chorus Line beginnt damit, dass von mehreren hundert Bewerbern achtzehn übrig bleiben. Aus ihnen müssen der Regisseur und Choreograph Zach und sein Assistent Larry die acht auswählen, die tatsächlich einen Vertrag für eine neue Produktion erhalten. Um sich ein besseres Bild von den Persönlichkeiten der Tänzerinnen und Tänzer machen zu können, lässt er sie wahre Begebenheiten aus ihrem bisherigen Leben erzählen. In einer Art Seelenstriptease öffnen sich die Kandidaten mehr oder weniger und geben interessante Einblicke in ihr Leben. Man kann es auch so zusammenfassen, wie es Intendant Joern Hinkel im Vorwort des Programmheftes tut: „Marvin Hamlisch gelingt es in A Chorus Line, die Gnadenlosigkeit der Musikbranchen-Maschinerie, den Zwang zum immergleichen repetitiven Heile-Welt-Glamour in Töne zu fassen und ihnen ganz zärtliche, einzigartige musikalische innere Monologe gegenüberzustellen.“

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Und tatsächlich gelingt es dem Komponisten Marvin Hamlisch hervorragend, die verschiedenen Stimmungen in Musik umzusetzen. Die Liedtexte zu A Chorus Line stammen von Edward Kleban, das Buch von James Kirkwood und Nicholas Dante. In Bad Hersfeld wird die durchgängig deutsche Fassung von Robin Kulisch aufgeführt. Die Rollen spiegeln die ganze Bandbreite der amerikanischen Bevölkerung wider, sei es beispielsweise der Afroamerikaner Richie oder die Tänzerin Diana mit puerto-ricanischen Wurzeln. Auch das Thema Homosexualität wird offen und selbstverständlich behandelt, und so war A Chorus Line 1975 vielleicht sogar ein wenig wegweisend für das gesamte Musical-Genre. Dabei kommt das Stück ohne großes Bühnen- und Kostümbild aus, ein Proberaum mit Spiegeln und die Casting-Teilnehmer in Trainingskleidung, mehr braucht es nicht. Dennoch ist das Bühnenbild von Karin Fritz mit großen, verschiebbaren Spiegeln als sehr gelungen zu bezeichnen, da die Gegebenheiten der Stiftsruine geschickt genutzt werden. Das gilt auch für das Lichtdesign von Pia Virolainen, die teilweise mit schönen Schatteneffekten arbeitet. Hinzu kommen zwei Videowände, auf denen Großaufnahmen der Darsteller gekonnt in Szene gesetzt werden. Die Videowände werden auch immer wieder für kleinere Einspielungen genutzt. Dies beginnt bereits 10 Minuten vor Vorstellungsbeginn, wenn sich viele hundert junge Künstler zum Casting vor der Stiftsruine einfinden, um ihre jeweilige Teilnehmernummer zu erhalten. Dass Regie und Choreografie in Bad Hersfeld in den Händen der renommierten Choreografin Melissa King liegen, ist ein weiterer Glücksfall, denn sie kennt das Geschäft auch aus ihrer Zeit als Tänzerin. Ihre Inszenierung zeigt sehr eindringlich die harte Welt des Showbusiness und rückt Menschen in den Mittelpunkt, die sonst nicht so sehr im Rampenlicht stehen. So ist auch in diesem Fall das Ensemble der Star der Produktion. Arne Stephan zeigt als Regisseur Zach eine beeindruckende Mimik und setzt sich immer wieder an seinen Regietisch mitten im Publikum, um von dort aus das Casting zu leiten. Aber auch alle anderen 25 Darsteller, die hier leider nicht alle namentlich genannt werden können, überzeugen in dieser Produktion.

© BHF/ Johannes Schembs

In rund zweieinviertel Stunden (ohne Pause) kann der Besucher in Bad Hersfeld in eine Audition eintauchen und so einen kleinen Blick „hinter die Kulissen“ werfen. Auch in diesem Jahr ist den Festspielen eine sehens- und hörenswerte Musical-Inszenierung gelungen, denn unter der musikalischen Leitung von Christoph Wohlleben erklingt das große Orchester schwungvoll aus dem Graben. Erwähnenswert ist übrigens abschließend noch die Ansage vor der Vorstellung, die störenden Handys bitte gut wegzupacken, anstatt andere Theaterbesucher damit zu nerven. Eine Ansage, die man sich in dieser Schärfe und Wortwahl öfter wünschen würde und die das Premierenpublikum zu spontanem Applaus veranlasste.

Markus Lamers, 24. Juni 2024


A Chorus Line
Musical von Marvin Hamlisch, Edward Kleban, James Kirkwood und Nicholas Dante

Bad Hersfelder Festspiele, Stiftsruine

Premiere: 22. Juni 2024

Inszenierung und Choreographie: Melissa King
Musikalische Leitung: Christoph Wohlleben

Weitere Aufführungen bis zum 18. August 2024