Der 79. Festspielsommer der Bregenzer Festspiele steht ganz im Zeichen der neuen Intendantin Lilli Paasikivi (sie war zehn Jahre lange Chefin der Nationaloper in Helsinki), die den Festspielen schon zu Beginn ihren unverkennbar finnischen Stempel aufdrückt. Als erste Oper im Festspielhaus unter ihrer Leitung hatte George Enescus Œdipe am 16. Juli 2025 Premiere. Am 17. Juli 2025 gab es noch einmal auf der Seebühne Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ in der opulenten und außergewöhnlichen Inszenierung des deutschen Regisseurs Philipp Stölzl. Insgesamt stehen 2025 knapp 80 Veranstaltungen auf dem Spielplan der Bregenzer Festspiele.

© Bregenzer Festspiele / Daniel Ammann
Aller Augen richteten sich natürlich auf Georges Enescus Oper Œdipe. Die Originalbezeichnung lautet „Tragédie-lyrique“ in vier Akten und sechs Bildern. Das Libretto verfasste Edmond Fleg nach den Tragödien des Sophokles. Die Oper wurde mit großem Erfolg am 13. März 1936 im Palais Garnier der Pariser Oper uraufgeführt.
Der Inhalt der Oper behandelt das gesamte Leben des Ödipus, wobei der dritte Akt auf Sophokles’ Tragödie „König Ödipus“ basiert und der vierte Akt auf dessen „Ödipus auf Kolonos“. Die ersten beiden Akte stellen die Vorgeschichte dar. Enescus umfassende epische Darstellung des antiken Ödipus-Stoffes auf der Opernbühne gehört zu den wegweisenden Werken im Opernschaffen des frühen 20. Jahrhunderts – ein monumentales Drama, das die Tragik des schuldlos Schuldigen und die Schicksalhaftigkeit der menschlichen Existenz thematisiert. Die Oper gilt vielen als einzigartiges dramatisches Opernmonster nach Sophokles, das stilistisch nur schwer einzuordnen ist.
Zur Handlung: Ein schrecklicher Fluch lastet auf König Laïos von Theben. Das Orakel von Delphi hat ihm prophezeit, dass er von seinem Erstgeborenen erschlagen werde und dieser seine eigene Mutter Jocaste heiraten wird. Aus Furcht vor der Weissagung befiehlt Laïos einem Hirten, seinen Sohn Œdipe direkt nach der Geburt zu töten.
Doch das Schicksal will es anders: Œdipe überlebt und wächst als Kind des Königspaars Polybos und Mérope am Hof von Korinth auf. Seine Herkunft wird ihm verschwiegen. Nachdem er als Jugendlicher von seinem schicksalhaften Verhängnis erfährt, flieht er vor seinen vermeintlichen Eltern, um dem Vorhergesagten zu entkommen. Auf dem Weg nach Theben, wo er die Sphinx bezwingt, erschlägt Œdipe im Streit einen Fremden.

Als unbekannter Held gefeiert, wird er zum neuen König gekrönt und nimmt die verwitwete Königin zur Frau. Was er nicht weiß: Der erschlagene Fremde ist sein Vater, die Frau seine Mutter Jocaste. Der Frevel bleibt nicht unbestraft. Eine Seuche sucht Theben heim und der schuldlos schuldig gewordene Œdipe muss erkennen, dass sich das Orakel schon längst erfüllt hat. Jocaste begeht Suizid, Œdipe blendet sich selbst aus Buße und verlässt seine Familie und Theben. Nach jahrzehntelanger Isolation zeigen die Götter Gnade und führen Œdipe zurück ins Licht. Œdipe erklärt, dass ihn selbst keine Schuld an seinen Taten treffe, deren Weichen bereits vor seiner Geburt gestellt wurden. Auch seine späteren Vergehen habe er in Unwissenheit begangen. Jetzt jedoch habe er sein Schicksal überwunden. Die Thebaner dagegen hätten ihn vertrieben, obwohl sie wussten, dass er sie gerettet hatte. Er teilt Thésée mit, dass er einen bestimmten Ort in diesem Hain als seine letzte Ruhestätte ausersehen habe. Im Wissen um seinen bevorstehenden Tod verabschiedet er sich von seiner Tochter, die er in der Obhut der Athener lässt. Dann führt er Thésée an den Ort seiner Verklärung. Bei Donnergrollen betritt Œdipe eine Grotte, aus der anschließend ein helles Licht strahlt. Thésée fällt auf die Knie und bedeckt sein Gesicht, während die Stimmen der Eumeniden verkünden, dass Œdipes Seele rein sei.
Für die Bregenzer Neuproduktion von Œdipe zeichnet der international renommierte Regisseur Andreas Kriegenburg verantwortlich. Die musikalische Leitung übernimmt der finnische Stardirigent Hannu Lintu, der zum ersten Mal bei den Bregenzer Festspielen zu erleben ist.
In der Bregenzer Inszenierung wird jedem der vier unabhängig erzählten Akte ein Element gewidmet: Feuer, Wasser, Asche und Holz, kombiniert mit archaischen Materialien. Andreas Kriegenburg bleibt eng an der Archaik des Stücks, ohne es zu aktualisieren und stellt sich die Frage, „ob es überhaupt eine Chance gibt, dem eigenen Schicksal zu entkommen“. Er inszeniert ritualhaft, beinahe oratorisch die beispiellos grausame antike Geschichte von atavistischer, fremder Dimension. Er fasziniert mit sogfältiger Personen- und virtuoser Chorregie. Der Prager Philharmonische Chor unter der präzisen Leitung von Lukáš Vasilek Ist außerordentlich beeindruckend.

© Bregenzer Festspiele / Daniel Ammann
Kriegenburg ist der Ansicht, mit nur einem Bühnenbild werde man dem Werk nicht gerecht, deshalb hat er sich entschieden, „eigentlich vier Miniopern zu erzählen – vier sehr unterschiedliche Stationen eines Lebens.“ Der erste Akt steht im Zeichen des Feuers, das in einer Schale brennt. Auf den Wänden und in den Kostümen von Tanja Hofmann dominiert Rot. Tänzerische Bewegung herrscht vor, der Eindruck von Ringelpiez mi Anfassen lässt sich allerdings nicht von der Hand weisen. Der zweite Akt, in dem Ödipus die Sphinx besiegt, ist von Wasser in Form von Nebel geprägt. Der dritte Akt, in dem es um die Pest in Theben geht, ist der Asche (der Verbrannten) gewidmet. Der vierte Akt wird von Holz bestimmt, für Ankunft und Erlösung des Ödipus im heiligen Wald, der als Rundhorizont aus Baumstämmen gezeigt wird. Man denkt unweigerlich an den dritten Akt des Bühnenweihfestspiels Parsifal. Etwas Sakrales (auch in der Musik) ist diesem (anders als in der antiken Vorlage) christlich anmutenden Schlussakt nicht abzusprechen.
Es sind vier einzelne, voneinander losgelöste Stationen eines beispielhaft tragischen Lebens, die Kriegenburg zeigt, verbunden sind sie nur durch das unbehandelte, raue Holz der Bühnenbilder. Beeindruckend sind die monumentalen drehbaren Wände, die von Andreas Grüter in jeweils anderes magisches Licht getaucht werde. Aber auch die leeren, qualmgefüllten Räume in Blau haben etwas Suggestives. Die Nebelmaschinen werden nicht geschont. Der magische Auftritt der Sphinx, eines übergroßen, gefiederten Skelettwesens, dessen Flügel von Bühnenarbeitern gestützt und bewegt werden, ist sicher der Höhepunkt der theatralischen Imagination des Unvorstellbaren, als die man die Inszenierung Andreas Kriegenburgs bezeichnen darf.

Hannu Lintu, der Dirigent der außerordentlichen Bregenzer Aufführung, hat Enescu als „einen Maler in Klängen“ bezeichnet, Kriegenburg hat diesen klanglichen Gemälden sinnliche Farbe gegeben, Atmosphäre und Raum. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus hielt die Oper für ein „Monodrama mit Nebenpersonen“, wobei der Monolog des Ödipus im Wesentlichen als „Kommentar zu einem symphonischen Orchestersatz“ fungiere. Anders als in der Oper sonst üblich, hat die Musik Vorrang vor der dramatischen Handlung, die hier nur zur Rechtfertigung einer „episch-lyrischen Rhetorik“ diene. Es handele sich um ein „Orchesterwerk von ungeheuren Ausmaßen […], das als Symphonie gemeint, aber als solche nicht möglich war“. Dem pflichtet auch der Dirigent bei, auch für ihn ist die Oper „ wie eine Sinfonie gebaut, musikalisch durchaus eklektisch, aber „an Klangüberwältigung wie klanglicher Ausdifferenzierung hinter Mahler kaum“ zurückstehend.
Der formale Aufbau mit Prolog, vier Akten und Epilog ist zwar traditionell, doch die Musiksprache folgt Prinzipien des 20. Jahrhunderts. Die Oper benötigt ein großes Orchester von reicher und farbiger Orchesterbesetzung, neben den Streichern je 14 Holz- und Blechbläser, dazu 15 Schlaginstrumente, Klavier, Celesta und Harmonium. Im außerordentlich differenziertem Tonsatz der Oper werden vielfach Soloinstrumente eingesetzt. Rhythmus und Ästhetik sind geradezu zukunftsweisend. Raffinierteste Klangfarbenmischungen und eine quasi kammermusikalische Durchsichtig gehören dazu, brutale Lautstärke ebenso wie intime Lyrismen. Die Harmonik verbindet tonale und modale Elemente. Es gibt Anspielungen an die rumänische Volksmusik. Deutlich hörbar sind Einflüsse von Claude Debussy, Maurice Ravel, seinem Lehrer Gabriel Fauré und der Musik des deutschen Expressionismus – eine narkotisierende Mischung. „Die Oper ist auf einzigartige Weise Tragödie, Parabel und Mysterium des Menschseins, archaisch und aktuell zugleich und dies alles in und durch Musik zugleich“ (Uwe Schweikert).
Der Dirigent Hannu Lintu hat die Fäden der bewegenden Aufführung sicher in der Hand, bezaubert, ja überwältigt durch Klangpracht, analytische Klarheit und den richtigen Mix aus rumänischer Volksmusik, altertümlich wirkender Heterophonie, französischem Impressionismus und russischen Expressionismus, der das Werk so vergleichslos macht. Lintu beschwört kraftvoll wie sensibel einen emotional durchglühten sinfonischen Rausch, den man schwerlich als „Oper“ im traditionellen Sinne bezeichnen kann. Ein überwältigendes Dirigat. Chapeau!

© Bregenzer Festspiele / Daniel Ammann
Auch die sängerische Besetzung ist formidabel, man überzeugt mit einem in den vielen Partien erstklassigen Ensemble, das nicht durch Stimmschönheit allein, sondern auch durch große Expressivität punktet. Allen voran der französische Bassbariton Paul Gay als stimmlich wie darstellerisch imposanter Ödipus, aber auch die großstimmige Mezzosopranistin Marina Prudensksya, die eine subtile Charakterstudie der Jocaste zeichnet. Beindruckend ist auch das stimmliche Format des Créon von Tuomas Pursio, anrührend und eindringlich auch Ante Jerkunikas schauspielerische wie sängerische Gestaltung des blinden Sehers Tirésias. Die Sphinx von Anna Danik hat magisches Format, und die Antigone von Iris Candelaria ist reine stimmliche Anmut und Schönheit, um nur die wichtigsten Partien zu nennen. Alles in allem darf man von einer überwältigenden Aufführung der selten gespielten Oper sprechen. Sie wurde vom Premierenpublikum gefeiert, es war ein erster Triumph der neuen Intendantin.
Dieter David Scholz, 19. Juli 2025
Œdipe
George Enescu
Bregenzer Festspiele
Premiere am 16. Juli 2025
Inszenierung: Andreas Kriegenburg
Musikalische Leitung: Hannu Lintu
Wiener Symphoniker
Weitere Aufführungen: 20. und 28. Juli 2025