Meiningen: „Fidelio“, Gastspiel aus Kiew

Vorstellung am 04.05.2022
Gastspiel des Freien Modern Music Theatre Kiev

Hochpolitisch und hochemotional

So einfach zur Tagesordnung überzugehen, wird wohl keinem gelingen, nicht dem Meininger Theater, nicht dem Publikum und erst recht nicht dem Ensemble des „Freien Modern Music Theatre Kiev“. Mitten im Krieg zeigt diese kleine Truppe Kulturschaffender, dass es nicht nur Millitäreinsätze, Waffenlieferungen und Milliardenhilfen braucht, sondern auch Empathie, Glauben an das Machbare, helfende Hände, Herzen und Köpfe. Intendant Jens Neundorff von Enzberg und Regisseur Andrey Maslakov sind Ausnahmetypen mit überwältigendem Charisma, Tatkraft und unerschütterlichem Optimismus. Sie überwanden bürokratische, logistische, technische und finanzielle Hürden, um mit diesem Spontanprojekt zu zeigen: „Geht doch“!

Eigentlich sollte Maslakovs „Fidelio“ schon 2020 im Beethovenjahr aufgeführt werden, was pandemiebedingt ausfiel. Erst am 12. Februar war Premiere, dann kam der Krieg und damit wieder das Aus für die Oper. Dank glücklicher Fügung und Hilfe von höchster Ebene gastiert das Ensemble nun in Deutschland.

Der Regisseur verlegt die Handlung in ein KGB-Gefängnis zu Zeiten stalinistischer Diktatur. Er bezeichnet seine Inszenierung als ein Symbol für Tyrannei und interpretiert den Stellenwert von Wahrheit und Freiheit anders als in der Originalversion des Komponisten. Die Dialogfassung ist volksnah, teils witzig, teils zotig, aber auch nüchtern oder pathetisch und den Charakteren augenfällig angepasst. Die Arien belässt er in deutscher Sprache, doch die gesprochenen Dialoge ursprünglich in ukrainischer. Aber es war dem Ensemble ein Anliegen, auf die Schnelle alles übersetzen zu lassen und einzustudieren. Was für ein Kraftakt!

Zur Ouvertüre wird auf riesiger Leinwand eine Video-Collage in Schwarzweiß eingespielt, die die Vorgeschichte von Leonore und ihrem Mann Florestan, seine politische Agitation für Wahrheit und Freiheit, seine Verfolgung und Verhaftung in rascher Abfolge zeigt. Sie verkleidet sich als Mann, gewinnt das Vertrauen des Kerkermeisters Rocco, der einen Gehilfen gut gebrauchen kann. Seine Tochter Marzelline findet den hübschen „Fidelio“ weitaus attraktiver als ihren Möchtegernverlobten, den Pförtner Jaquino.

1. Aufzug

Das erste Bild zeigt die Hauptkulisse einer surrealen Gefängnisszenerie mit einer Mauer und farblich interessanten schroffen Hintergrundwänden. Im Vordergrund hantiert Marzelline im grünroten Dirndl fidel und quirlig in einer winzigen Küche, nachdem sie wohl gerade eine Gans gemeuchelt hat. Die Einrichtung der Gefängniswohnung ist spartanisch: Ein grünes Sofa, ein alter Tisch und ein desolates Klo, das tatsächlich benutzt wird, vermitteln zwar Schmuddelatmosphäre, aber durch Farbtupfer nicht unbedingt Tristesse. Der Pförtner Jaquino jammert, weil er endlich Marzellines Ja-Wort und am liebsten gleich mit ihr schlafen möchte. In einem ersten Duett wird schon klar, dass er wenig Chancen hat, denn sie ist scharf auf Fidelio und macht ihm gewaltig Avancen. Ihr Vater Rocco, geprägt von Alter und ödem Beruf, lobt den Jungen, der ihm eine wertvolle Hilfe ist. Im Quartett besingen alle ihre Wünsche, Hoffnungen und ihren Kummer. Der Kerkermeister sitzt auf dem Klo, säuft und ist über die Wahl seiner Tochter nicht unglücklich. Da erscheint Don Pizarro, der Gouverneur des Staatsgefängnisses, und kündigt eine Kontrolle durch den Minister an, der von angeblichen Menschenrechtsverletzungen und Misshandlungen der Gefangenen gehört hat.

Er hat dafür gesorgt, dass Florestan halbtot im tiefsten Kerker sitzt, weil dieser seine üblen Machenschaften ans Licht bringen wollte. Nun bietet er Rocco Geld dafür, den Gefangenen umzubringen, damit er seinen Posten behalten kann. Der weigert sich, muss aber wenigstens das Grab ausheben und Pizarro hat vor, den Widersacher selbst zu töten, um sich zu retten. In einem zweiten Bild tritt eine Gruppe von Männern in weißen Hemden mit Holzspeeren auf, die auf Sandsäcke einstechen, wohl als Symbol für Soldaten, die weder Uniform noch Waffen haben. Im nächsten Bild zieht Fidelio die Männerkleidung aus. Brustbinde, Penis und Mütze sind lästig. Yuliia Alieksieieva darf für einen Moment wieder Leonore sein. Jetzt erst kann sie ihre wundervolle Stimme entfalten, wenn sie in ihrer Sorge um ihren Mann, den sie bisher noch nicht sehen durfte, anrührend von Trost und Hoffnung singt, von Liebe, die Grausamkeit überwinden soll, der Hintergrund wird ganz in rotes Licht getaucht. Später kann sie Rocco überreden, die Gefangenen doch einmal an die Luft zu lassen. Vom Licht geblendet, ungläubig ob des Guten, was ihnen da widerfährt, singen sie im Chor von Lust und Hoffnung auf Freiheit. Doch da zieht im Hintergrund ein riesiges Bild Stalins auf. Man weiß, „er lauscht mit Ohr und Blick“, Sirenen ertönen, Lichtkegel rotieren und Pizarro ist wütend. Er lässt die Männer zusammentreiben und von seinen Schergen erschießen… zu Stalins heutigem Geburtstag.

2. Aufzug

Florestan liegt angekettet im tiefen Kerkerloch. Er hadert nicht mit seinem Schicksal, weil er die Wahrheit aussprach und sich dafür einsetzte, die menschenverachtenden Machenschaften Pizarros publik zu machen. In einer plötzlichen Vision erscheint ihm ein Engel, der Leonore gleicht, es wird hell um ihn. Serhii Androshchuk beeindruckt mit kraftvoller Stimme voller Emotionen. Hier winselt kein Halbtoter, nein, hier zeigen sich Inbrunst und Freiheitskampf auf anrührende Weise. Inzwischen sind Rocco und Fidelio dabei, in dem Verlies eine Grube auszuheben, es stinkt, ein Haufen von Fäkalien muss weggeräumt werden, Abflussrohre in Form eines Kreuzes muten grotesk an, metaphorisch für den Kreuzigungsplatz Christi. Lebt der Gefangene noch? Ja, und er zweifelt inzwischen am Sinn, die Wahrheit gesagt zu haben, statt sich in einem Leben in „Freiheit“ eingerichtet zu haben. Doch schon kommt Pizarro als Rächer, zückt das Messer und will Florestan töten. Fidelio wirft sich dazwischen, gibt sich als Leonore zu erkennen und ist wild entschlossen, sich für ihren Mann töten zu lassen. Da kommt Jaquino in schneidiger Uniform, berichtet von einem Regierungsumsturz und er und Rocco „kümmern“ sich um den Schurken. Das endlich wieder vereinte Paar singt in „namenloser Freude“ ein Duett, das eigentlich als überschwängliches Happy End verstanden werden könnte. Da werden plötzlich auf überdimensionaler Leinwand Archivaufnahmen eingeblendet . Das Publikum wird schier bombardiert mit den Schlächtern der Welt, ihrem Sturz und den Hoffnungsträgern für Demokratie und Freiheit, doch gleich rollen wieder Panzer. Dazwischen laufen immer wieder Ausschnitte aus Tschaikowskys Ballett Schwanensee . Es ist mucksmäuschenstill im Publikum. Man hält den Atem an und sieht und weiß: Nichts wird besser. Im Finale erscheint Don Fernando, ein Freund Florestans, der sich als demokratischen Senator feiern lässt und den Gefangenen die Freiheit schenkt. Er sonnt sich im Licht der Medien, während im Hintergrund Pizarro an den Galgen gezerrt wird. Leonore befreit ihren Mann, Marzelline, kein Kind von Traurigkeit, tröstet sich schnell und wendet sich nun wieder in Ermangelung eines anderen Jaquino zu. Noch einmal ist der Fokus auf die jubelnde Menge gerichtet, die mit der gewonnenen Freiheit allerdings kaum umzugehen weiß. Da erscheint plötzlich Leonore mit einem Maschinengewehr und erschießt sie. Zurück bleiben am Rande „lesende Blinde“. Demokratie erscheint als Utopie.

In einem langen Filmabspann werden noch einmal alle Akteure gezeigt, aber auch sämtliche guten Geister, die diese Vorstellung möglich gemacht haben, verbunden mit einem riesigen Dankeschön.

Diese Aufführung hat trotz ihrer Brutalität Charme. Der Regisseur wollte mit seiner Interpretation eine Oper für alle schaffen und Leute ins Theater locken, die noch nie da waren. Deswegen verzichtete er auf Pathos, gab Humor, Witz und Frivolem Raum. Marzelline und Rocco sind einfache und normale Menschen, die ihre „Bedürfnisse“ zeigen und sich auch ordinär verhalten dürfen. Leonore und Florestan sind eigentlich Idealisten, die aber scheitern. Bei Jaquino, Don Fernando und Pizarro finden sich Opportunismus und Machtgier.

Im ersten Akt spürt man noch etwas von Anspannung und Aufregung. Die Stimmen wirken verhalten, als könne man es noch immer nicht fassen, tatsächlich hier auf einer Bühne zu stehen. Der helle Sopran Olha Fomichovas gewinnt aber schnell an Klangfarbe, und sie verkörpert als Marzelline amüsant eine kecke, quirlige junge Frau, die sich einen Mann angeln will. Sie gurrt und quengelt, schmachtet und wirbt, ganz wie es die Rolle verlangt. Tenor Vitalii Ivanov mimt zunächst sichtlich gequält und ärgerlich den verschmähten Liebhaber Jaquino, dreht jedoch im zweiten Akt auf. Ausdrucksstark, souverän und schneidig zeigt er äußerlich wie stimmlich Format. Der Situation im ersten Akt geschuldet, muss Yuliia Alieksieieva als Fidelio anfangs ihre Stimme nüchtern und sparsam einsetzen. Aber welch eine Überraschung bietet sie als Leonore mit makellosem leidenschaftlichem Sopran. Töne der Liebe, des Schmerzes, der Wut und der Enttäuschung, kraftvoll oder leise, beweisen ein großes Talent.

Oleksandr Kharlamov schlüpft in die Rolle des Kerkermeisters Rocco und vermittelt in gutmütigem Bass Gelassenheit, Verlässlichkeit und verschafft sich gewitzt seine Vorteile, eine sympathische Figur. Bariton Dmytro Kyrychek kommt als zynischer und grausamer Bösewicht Pizarro schneidend und markant auf den Punkt. Ganz anders fleht er mit dünner Stimme am Galgen um sein Leben. Tenor Serhii Androshchuk setzt seine gewaltige Stimmstruktur als Florestan virtuos ein… und das nach Wochen im Kerkerloch. Jevgen Malofeiev als Don Fernando gibt sich in feinem, geschmeidigem Bariton so, wie es sein Amt verlangt. Verstärkung für den Meininger Chor kam vom Landestheater Coburg, das den „Fidelio“ im Repertoire hat. Unglaublich, dass nach nur kurzer Probenzeit musiktheatralisch so eine Harmonie zustande kam. Ein großes Kompliment gilt der Meininger Hofkapelle, die ebenfalls unter großem Zeitdruck Beethovens Oper einstudieren musste. Kraftvoll und grell, pathetisch oder zart erklang starke und berührende Musik aus dem Orchestergraben. Dass die Fanfare zum Machtwechsel aus dem Rang ertönte, war besonders eindrucksvoll. Als Zeichen der Verbundenheit beider Nationen dirigierte der Ukrainer Sergii Golubnychyi den ersten Aufzug und der Meininger GMD Philippe Bach den zweiten.

Was sich am Ende abspielte, wird wohl keiner so schnell vergessen. Diese hochpolitische und hochemotionale Vorstellung und die Wahnsinnsleistung des Ensembles trotz Krieg und Angst verdient größten Respekt und Bewunderung. Trotz widrigster Umstände und Ungewissheit, ob dieses Projekt überhaupt stattfinden kann und darf, hat sich diese kleine Truppe in ein Abenteuer gestürzt, von dem man noch nicht weiß, wie es ausgeht. Die Visa laufen in Kürze ab. Werden sie verlängert oder müssen sie zurück und die Männer zum Wehrdienst? Dürfen sie zu weiteren Gastspielen nach Coburg, Siegen, Heidelberg oder in andere Städte? Tief bewegt und begeistert spendeten die Zuschauer nicht endenwollenden Applaus. Sichtlich bewegt und erleichtert lagen sich Intendant Jens Neundorff von Enzberg und Regisseur Andrey Maslakov in den Armen. Hier zeigte sich, dass Kultur Schrecken überwinden und Brücken bauen kann.

Inge Kutsche, 8.5.22

Bilder: Christina Iberl, Anastasia Maslakova/Yurii Veres