Meiningen: „Amadigi di Gaula“

Georg Friedrich Händel

Musikalische Leitung: Attilio Cremonesi

Regie, Bühne, Kostüme: Hinrich Horstkotte

Dramaturgie: Claudia Forner

Premiere am 17.09.2021

Spielzeiteröffnung mit einer über 300 Jahre alten Oper, deren überschaubarer Inhalt sich an einem Ritterroman aus dem 16. Jh. orientiert und nicht auf einem Schrottplatz oder Gefängnishof spielt… geht das? Ist die Gefahr nicht groß, dass ein Werk des Barock im Schwulst überladener Kulissen und Kostüme, Effektspektakel und überzeichneter Figuren einfach nicht mehr zumutbar ist? Jens Neundorff von Enzberg, dem neuen Intendanten des Staatstheater Meiningen, gelang es, mit Hinrich Horstkotte einen Regisseur zu gewinnen, der den Urstoff Händels zwar entstaubt hat, aber dennoch faszinierende Bühnenbilder entwarf, opulente wie witzige und verrückte Kostüme kreierte und maßvoll dosierte Effekte ersann.

Auf ihrer Reise geraten die Ritter Amadigi und Dardano ins Zauberreich Melissas, die sich in ihn verliebt. Er aber ist bereits mit Oriana liiert, die auch Dardano heiß begehrt. So werden beide zu Rivalen. Die Zauberin versucht vergeblich, Amadigi zu verführen und erntet nur eine kalte Abfuhr. Verzweifelt und wütend offenbart sie ihm, dass sie Oriana in einem Turm gefangen hält, den ein Feuerkreis umgibt. Beide Männer wollen sie befreien, was allein Amadigi als wahrhaft Liebendem gelingt.

Orianas Freude währt nur kurz, Melissa lässt sie erneut von ihren Furien entführen, um das Objekt ihrer Begierde doch noch zu bezirzen. Vergeblich. Nun soll Dardano in Gestalt des Nebenbuhlers die Geliebte betören. Amadigi kommt hinzu und im Kampf tötet er den Rivalen. Melissas Pläne gehen nicht auf. Beide Frauen geraten in einen heftigen Streit und wieder wird Oriana in den Palast der Zauberin entführt, die dann all ihre magischen Kräfte und Furien mobilisiert, um das Liebespaar doch noch zu trennen. Am Ende ruft sie Dardanos Geist aus der Unterwelt zu Hilfe, aber die Götter dort stehen auf Seiten der Liebenden. Daran zerbricht Melissa und bringt sich um. Fanfaren ertönen, das Paar wird in Hochzeitskleidung gesteckt, aber ob es nach all dem erlebten Leid sein Glück finden wird, sei dahingestellt.

Alle vier Protagonisten stehen für einen bestimmten Charakter. Das offenbart sich im Kontrast ihres Auftretens, ihrer Kostüme, ihrer Gefühle, im Bühnenbild und in den Farben. Melissa, die Zauberin, verkörpert von Monika Reinhard, ist die stärkste Persönlichkeit, was sich in einer ungeheuren Opulenz ihrer raumgreifenden Roben zeigt.

Rot und Schwarz sind die Farben dieser Figur, die all ihre Gefühle wie Wut, Verzweiflung, Rachegelüste, Liebesschmerz und Verletzlichkeit in ihre Stimme legt. Scheinbar mühelos und hochemotional vokalisiert sie in endlosen Koloraturen brillant jede Regung. Mimik und Gestik unterstreichen ihre psychische Situation. Dardano, gespielt von der großartigen Mezzosopranistin Almerija Delic, zeigt mit ungeheurem Körpereinsatz Temperament und starke Gefühle. Souverän meistert sie facettenreich die vokalen Brechungen aller Gesangstöne der schwierigen Arien in scheinbarer Leichtigkeit. Jungenhaftes, fast lässiges Outfit, wirre Frisur, leicht derangiert, stetiges Klagen prägen diese unglückliche Persönlichkeit, den Loser. Amadigi daneben wirkt in seiner Rolle fast starr und distanziert. Countertenor Rafal Tomkiewicz muss zwar in weißer edler Robe den starken Helden markieren, hinter dessen Fassade sich jedoch wenig Einfühlungsvermögen findet, was die Psyche beider Frauen betrifft. Er handelt nach Schema, wirkt manchmal wie fremdgesteuert. Seine Stimme bleibt zart und selbst in Konfliktsituationen wenig vehement. Auch Oriana, stets mädchenhaft in schlichtem, fließendem Weiß, ist seltsam distanziert, scheint kraftlos, zerbrechlich, ängstlich. Nie lässt sie sich von Angst oder Freude hinreißen. Erst am Ende, als alles verloren scheint, tritt sie Melissa kraftvoll gegenüber. Sopranistin Sara-Maria Saalmann interpretiert diesen Typus sehr einfühlsam und behutsam in anrührendem Gesang.

Barocker Stil, wie man ihn von Kirchen und Schlössern gewohnt ist, erschlägt in seiner Fülle. Hinrich Horstkotte entrümpelt und schafft Solitäres, das den Blick des Betrachters magisch in seinen Bann zieht: ein riesiger roter Höllenschlund mit gewaltigen Zähnen bildgewaltig in Szene gesetzt, schwebende Säulen in zarten Weiß- und Grautönen schaffen Illusion von Räumen, spiegelnde Wände die von Brunnen. Gewaltige Steinschluchten, Feuerkreise aus züngelnden Flämmchen oder hopsende Meereswellen mit ulkigem Getier sind phantastisch und witzig zugleich. Aber auch Szenen mit spartanischem Interieur sind bewusst gewählt, wenn die Sinne ganz auf eine Figur gelenkt werden. Nur so erlebt das Publikum die virtuosen Arien in ihrer Vielfalt. Zauber, Überraschungen, Effekte, phänomenale Kostüme wie ein Reifrock Melissas, der sich zu einem riesigen Zelt bauscht, Gruseliges oder Schrilles für die Furien, Lächerliches wie Schirmröckchen und Glitzeroberteil für Amadigi. Keinesfalls unerwähnt bleiben dürfen die Künstler an der Lichttechnik. Denn sie zaubern in jeder Szene Stimmungen und Gefühle und machen eine Opernaufführung zum komplexen Wunderwerk.

Dirigent Attilio Cremonesi ist die Seele dieses Kunstwerks. Mit den Solisten der Meininger Hofkapelle gestaltet er musikalische Charaktere, Handlung und Stimmungen präzise und transparent. Lebendiger und einfühlsamer kann man sich Händels Musik kaum vorstellen. Filigran bis furios, hingehaucht leise bis kraftvoll dynamisch gestaltet er die Sätze so, dass jede Stimme hörbar bleibt. Ständig wechselnde Tempi, vielfältige Klangschattierungen, Hervorheben von Soloparts zeugen von einer genau ausbalancierten Dramaturgie. Dem großartigen Orchester und seinem Dirigenten zuzusehen, war fast genauso faszinierend wie das Geschehen auf der Bühne.

Gratulation dem neuen Intendanten, dem gesamten Team des Theaters zu einem wahrhaft gelungenen Start in die neue Spielzeit.

Inge Kutsche, 20-9-2021

Bilder (c) Theater Meiningen