Berlin: „Hänsel und Gretel“

Premiere am 8.12.2017

Revue der Freyer-Phantasie-Gestalten

Sogar die menschenkinderfressende böse Hexe aus Humperdincks „Hänsel und Gretel“ bezieht Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner Achim Freyer in seine gutmenschliche Weltsicht mit ein und richtet seinen Hass auf die kapitalismusabhängigen Süßigkeiten, die allüberall den Kindern auflauern und die von Gretel verächtlich von der Bühne gefegt werden, nachdem ein Monstrum, das kaum Menschliches, eher Robotermäßiges hat und dessen beide nagellackverzierte Hände sich selbstständig gemacht haben, hinter dem feuerlodernden Vorhang verschwunden ist. Dieser scheint eher eine Zirkusarena zu begrenzen als das Besenbinderhaus oder die Waldlichtung (auch an der Deutschen Oper gibt es in der Homoki-Inszenierung Clowns anstelle der vierzehn Engel) und in ihr tummeln sich außer den Tieren des Waldes auch ein Krokodil, ein Papagei und viele Fabelwesen wie ein Koch, der wie ein Emmentaler Käse durchlöchert ist (Hunger!), und damit sich die Inszenierung nicht zu sehr vom Stück entfernt, tragen sie winzige Flügelein zum Abendgebet.

Als Ausgleich zu diesem frommen Tun versinnbildlicht offenbar eine Kreuz(!)spinne das Böse, taucht zu Vater Besenbinders frommem, gottesvertrauendem Schlusssatz der Schriftzug „Revolutio“ an der Rückwand auf. Bis dahin haben die Phantasiegeschöpfe Freyers die Bühne bevölkert und mehr oder weniger davon abgelenkt, dass eine Personenregie kaum stattfindet, dass meistens nur auf einer breiten Rampe um das Orchester herum gerannt wird, denn die beiden Protagonisten, das Geschwisterpaar, haben riesige Pappköpfe anstelle ihrer Menschengesichter, so dass von Mimik nicht und von Gestik der daneben winzig wirkenden Ärmchen und Beinchen kaum die Rede sein kann. Da nützt auch ein gelegentliches Klappern mit den Augendeckeln nichts. Im Gegensatz dazu tragen die Eltern aufgeplusterte, wie ihre aus der Art gefallenen Kinder knallbunte Kostüme, so dass ihre Köpfe besonders klein wirken, der Besenbinder dazu noch eine Maske ähnlich der hat, mit der einst das Personal von Eugen Onegin verunziert worden war. Einmal mehr hat Achim Freyer in selbstverliebter Art eine Oper auf das Prokrustesbett seiner zugegeben vielfältigen Einfälle gefesselt und ließe es jämmerlich darauf verenden, wäre nicht die musikalische Seite.

Kinder, die das Märchen kennen, was man sich doch wünscht, werden enttäuscht sein, denn sie mögen keine Abweichungen vom Bekannten, und diejenigen, die es nicht zu ihrem Bildungsgut zählen, werden sich wie Bolle amüsieren. Zur Pause gab es böse Buhs, zum Schluss nur noch in abgemilderter Form zu langanhaltendem Beifall auch für den in roten Schuhen im Laufschritt das Orchester umrundenden, seinen umfangreichen Stab hinter sich herziehenden Achim Freyer.

Ganz aus dem Ensemble und damit gut besetzt, konnte man mit der musikalischen Seite hoch zufrieden sein. Roman Trekel war als Peter ein vielleicht eher zu kultiviert singender Besenbinder, dem man etwas mehr vokalen Biss wünschen könnte, vollmundig scheute Marina Prudenskaya mit warmem Mezzo auch nicht vor den dramatischen Schimpfkanonaden der Gertrud zurück. Mit leichterem, hellerem, geschmeidigem Mezzo war Katrin Wundsam ein angemessener Hänsel, die frische, zärtliche Mädchenstimme von Elsa Dreißig erwies sich als ideal für die Gretel.

Zart und fein klang das Taumännchen von Sarah Aristidou (ihr Kostüm war sehr witzig), etwas schwerer war die Stimme von Corinna Scheurle für das Sandmännchen. Fast zu schön, ohne die sonst oft zu hörenden Stimmverzerrungen gab Stephan Rügamer die Hexe, für deren Hexenritt der Regie leider nichts eingefallen war. Der bildende Künstler Freyer steht wohl zunehmend dem Regisseur im Wege und vielleicht nicht nur der, denn „Schau wie schlau.“ Kriege, Ausbeutung von Mensch und Natur. Machtlust und Missbrauch, dies alles ist immer, also: „auf die Plätze fertig los!“ heißt es unter „Gedankensplitter zur Konzeption von Achim Freyer“ im Programmheft.

Mit Enthusiasmus sang der Kinderchor unter Vinzenz Weissenburger, schönste, üppige Spätromantik erklang unter Sebastian Weigle aus dem tief versenkten Orchestergraben.

Damit und mit der einen Tag danach folgenden „L’Incoronazione di Poppea“ ist die Staatsoper Unter den Linden nach sieben Jahren Renovierung nun endgültig wieder eröffnet.

Fotos © Monika Rittershaus

9.12.2017 Ingrid Wanja