Mainz: „Le Villi / I Pagliacci“, Puccini / Leoncavallo

Lieber Opernfreund-Freund,

eine ungewöhnliche Kombination von Kurzopern ist derzeit am Staatstheater Mainz zu erleben. Dem Dauerbrenner Pagliacci von Ruggero Leoncavallo hat man nicht die übliche Cavalleria rusticana vorangestellt, sondern zeigt stattdessen Puccinis Erstling Le Villi. Die spannende Inszenierung von Verena Stoiber und das exzeptionelle Ensemble garantieren dabei einen packenden Opernabend.

(c) Andreas J. Etter

Die Geschichte von Puccinis 1884 entstandener Oper Le Villi spielt im Schwarzwald. Dort lieben sich Anna und Roberto und planen ihre Hochzeit. Er muss wegen einer Erbsache vor der Heirat noch einmal nach Mainz und versinkt im dortigen Nachtleben, vergisst im Rausch nicht nur sich selbst, sondern auch Anna – und die stirbt an gebrochenem Herzen. Als Roberto reumütig in die Heimat zurückkehrt, rächen sich die Geister entehrter, aus Liebeskummer gestorbener Frauen, die titelgebenden „Willis“, für Annas Schmerz dadurch, dass sie ihn zu Tode tanzen.  

Diese gleich in mehrerlei Hinsicht unglaubliche Story hat Regisseurin Verena Stoiber in die heutige Zeit geholt, lässt die beiden Verlobten auf der genialen Bühne von Susanne Gschwender zu Beginn ihr gemeinsames Heim beziehen. Roberto gerät in Mainz ins Fastnachtstreiben – ein anderes Versinken im Nachtleben kann man sich heutzutage dort eher weniger vorstellen – Fastnachtsurgestein Margit Sponheimer gibt folgerichtig in einem eingespielten Video die Verführerin. Die entehrte Anna schlitzt sich in der Badewanne die Pulsadern auf, legt dabei ihr Brautkleid an (die variantenreichen Kostüme stammen von Sophia Schneider). Schließlich empfangen die Seelen verstorbener Bräute den Heimkehrer, in dessen Haus sie mittlerweile umhergeistern, und der stürzt sich vom Dach des Hauses in den Tod. Durch ihre durchdachte Personenführung und das geniale Licht von Stefan Bauer gelingen Stoiber düstere und spannende Bilder. Die eingespielten Videos über Robertos Reise nach Mainz stammen von Jonas Dahl und lassen auch in den ausladenden Instrumentalteilen der Oper keine Sekunde Langeweile aufkommen. Vincenzo Costanzo gibt den ungestümen Roberto mit jugendlicher Forschheit; dabei gelingen ihm im Evergreen des Werkes Torna ai felici di berührende Momente. Luca Grassi ist mit seinem eindrucksvollen Bariton als Annas Vater Guglielmo sogar noch überzeugender. 

(c) Andreas J. Etter

Nach der Pause ist das Haus von Anna und Roberto um eine Etage gewachsen, wird zum Hochhaus mit rund einem Dutzend Wohnungen, in denen Menschen leben, die Homeoffice oder Sport treiben, Pizza vom Lieferservice essen oder sich als DJane versuchen. In einer dieser Wohnungen lebt Canio mit seiner Familie, der tagsüber in der Mainzer Fußgängerzone als Clown auftritt. Seine gescheiterte Ehe mit Nedda scheint diese nur noch wegen der gemeinsamen Tochter aufrecht zu erhalten, liebt sie doch heimlich den Nachbarn Silvio. Dieser moderne Ansatz funktioniert genau bis zu der Stelle ebenso gut wie die Verena Stoibers Adaption von Le Villi, bis im zweiten Akt das Komödienspiel beginnt, in dem der Bajazzo Columbina beim heimlichen Rendezvous ertappt und Canio dabei Theaterstück und Wirklichkeit vermischt. Hier lässt Stoiber schlicht einen Cartoon abspielen, Nedda singt dabei kofferpackend die Zeilen Columbinas. Das ergibt nicht wirklich Sinn und beraubt obendrein die Oper des zusätzlichen Reizes vom Theater im Theater. Ansonsten ist aber auch diese Umsetzung packend, vor allem die exzellenten Sängerdarsteller retten die szenischen Mankos: allen voran ist Antonello Palombi ein Canio wie aus dem Bilderbuch: Satte, bombensicher dargebotene Höhen wechseln sich mit tiefster, gebrochener Emotion ab. Marta Torbidoni hatte schon als Anna ihren facettenreichen Sopran gezeigt, der ein enormes Maß an Wärme verströmt. Als Nedda wird sie von der desillusionierten Schwarzwald-Braut auch stimmlich zur streitbaren Mutter, die um ihr persönliches Glück kämpft. So zeigt die Italienerin in den beiden so gegensätzlichen Rollen, wie wandelbar sie ist.

(c) Andreas J. Etter

Ivan Krutikov war bei Le Villi noch der durch die Handlung führende Erzähler, nun läuft er in der zweiten Hälfte als Tonio zu Höchstform auf. Verena Stoiber macht ihn zum Hausmeister, der in seiner Verehrung Neddas übergriffig wird. Das verkörpert Krutikov nicht nur darstellerisch glaubhaft, sondern ist schon im gesungenen Prolog von der ersten Sekunde an stimmlich präsent, besticht durch Kraft und Energie gleichermaßen, ohne ins Plakative abzugleiten. Myungin Lee gelingt ein bezauberndes Harlekin-Ständchen und Brett Carter gibt den Silvio voller Leidenschaft. Der von Sebastian Hernandez-Laverny betreute Chor ist im Bajazzo immer wieder an den Seiten der Bühne und im Publikum platziert, bietet so nicht nur stimmlich, sondern auch szenisch einen klangvollen Rahmen der Geschichte auf der Bühne. Daniel Montané erweist sich als musikalischer Tausendsassa, lässt in der ersten Hälfte des Abends schon Puccinis Genie farbenreich aufblitzen, um bei Leoncavallo puren Verismo voll klanglicher Wucht zu präsentieren. Auch wenn der Regieansatz im Bajazzo in letzter Konsequenz nicht verfängt, gibt’s am Ende Jubel für alle Beteiligten – auch von mir.

Ihr Jochen Rüth, 24. April 2023


Giacomo Puccini: Le Villi,

Ruggero Leoncavallo: Pagliacci

Premiere: 8. April 2023

Besuchte Vorstellung: 21. April 2023

Inszenierung: Verena Stoiber

Chorleitung: Sebastian Hernandez-Laverny

Musikalische Leitung: Daniel Montané

Philharmonisches Staatsorchester Mainz

gut gemachter Trailer