Premiere: 8.5. 2022. Besuchte Aufführung: 23.6. 2022
Dass zwei Dulcamaras auf der Bühne stehen, ersieht man aus dem Programmheft. Dass jedoch gleich zwei Adinas das Spiel um die Verdoppelungen mitspielt: das ersieht man aus dem Anschlagzettel – und mit einem Blick in die linke Proszeniumsloge. So betrachtet, hat das Konzept mit dem unfreiwilligen vokalen Ausscheiden der weiblichen Hauptrolle einen weiteren Schub erhalten.
Auf der Bühne steht, tanzt, bewegt sich also, geschlossenen Mundes, Andromahi Raptis, gesungen wird Adina diesmal von Penny Sofroniadou, einem Einspringer-Gast vom Theater Hagen, wo sie seit 2020 zum Ensemble gehört, die Adina sang – und wo sie bereits 2022 zum vorerst letzten Mal agieren wird. Im Herbst 2022 ist sie bereits Ensemblemitglied der Komischen Oper Berlin – kein Wunder ihre Nürnberger Adina ist der beste Beleg dafür, dass sie an der Spree mit der Nannetta brillieren wird. Stimmschön und -stark, vital in der Höhe, leuchtend mit noch etwas Luft nach oben: so präsentierte sich die sympathische Retterin des Abends, während die Premierenbesetzung, Andromahi Raptis, die kapriziöse wie nüchterne, lebenslustige wie, ja, dann doch herzbewegte Herzensdame Nemorinos mit Elan buchstäblich verkörperte.
Es ist ja schon erstaunlich, was man, in diesem Fall: Frau, alles mit dieser auf den ersten Blick so einfachen Musikkomödie anfangen kann. Die Psychologie der Figuren ist, bei aller typischen 19.-Jahrhundert-Schauspiel-Mechanik, denn doch, nicht zuletzt dank Donizettis genialer Musik, so ausgefuchst, dass das Werk, das ebenso viel schlichte Typenkomödie wie goldonihafte Bosheit besitzt, erstaunlich viel an „Konzept“ verträgt. In diesem Fall hat sich die Regisseurin Ilaria Lanzino, die in Nürnberg bereits mit Telemanns Pimpinone bewiesen hat, dass sie sich auf die intelligente und lustvoll komödiantische Darstellung und Interpretation älterer Geschlechterrollen versteht, Ilaria Lanzino hat sich also dazu entschlossen, zunächst einmal die Geschichte Adinas und Nemorinos im Schnelldurchlauf zu erzählen, bevor in einer Fortsetzung die geplante Heirat der Beiden unterbrochen wird, weil ein zweiter Dulcamara – sinnigerweise „Dulcamara 2.0“ genannt – die Dorfbewohner und den Gast Belcore in die digitale Welt der Partnervermittlung einführt. Dies ausgehend von der Beobachtung dass Nemorino, als romantischer Liebender, andere Ideale hat als seine Angebetete, die auf wechselnde Partner setzt: ganz so wie all jene, die sich auf den diversen asozialen Plattformen in einem Wettbewerb um auch sexuelle Akzeptanz kämpfen.
Das Erstaunliche dieser Idee ist: Sie funktioniert. Sie steht in keinem Moment quer zu Felice Romanis Text und Donizettis Musik. Sie modernisiert den Stoff rein äußerlich, ohne die zeitlos scheinende Geschichte in ihrem Wesenskern zu verletzen (die auffallend vielen jungen Leute, die die Aufführung besuchten, scheinen es gerade so empfunden zu haben). Adina bleibt über weite Strecken die wilde Katze, Dulcamara – der neue, also der mit Glatze und Gesichtsbemalung – der Einflüsterer, Belcore der brutale Kerl. Einmal singt Dulcamara 2.0 aus dem Off, während man seine Fratze, riesenhaft vergrößert, auf dem Monsterdisplay (Video: Torge Möller) betrachtet, der das Stilmittel der Ausstattung dieser Inszenierung ist. Emine Güner hat auch die fantasievollen Kostüme entworfen: Sci-Fi-Mode, individuell gestaltet, mit drei Grundfarben versehen, die die babyhaften Töne Blau und Rosa mit einem diversen Lila ergänzen. Also: Eine Infantilgesellschaft – aber eine, die sich in den Kostümen gut bewegen kann: auch in denen, die jeder Otto-Schenk-Inszenierung (nichts gegen Otto Schenk!) Ehre machen würden, und in denen die Dörfler ihr traditionelles Spiel spielen.
Dulcamara 2.0 verschwindet in jenem Moment, wie Mephisto, in die rauchende Hölle, in dem Adina weich wird. Am Ende aber betritt er doch wieder die wieder in die Tradition zurückverwandelte Szene – und das Spiel könnte von Neuem beginnen. A+N, Adina und Nemorino, diese beiden Initialen, in den „traditionellen“ Baum geschnitzt, sind, nebenbei, die Anfangsbuchstaben des Wörtchens „analog“. Das gibt Hoffnung, auch wenn der erste Dulcamara seinen Zaubertrank irgendwann selbst auszutrinken beginnt und sich angesichts des Einbruchs der teuflisch digitalen Moderne und einer Zeit, in der der Krieg ein „Live Game“ ist („Morgen um 10“) am liebsten aufhängen würde. Musikalisch klappt das alles sehr gut: mit Frau Sofroniadou an der Spitze neben Martin Platz als Nemorino, der seinen hellen Tenor nicht allein bei seinem Empfindsamkeits-„Schlager“ in romantisch hohe Regionen führt, ansonsten angemessen komisch agiert – chapeau! Samuel Hasselhorn gibt den Belcore und macht mit seinem Timbre stimmlich fast dem Dulcamara 2.0 Konkurrenz, betont szenisch und akustisch eher das Gewalttätige als das Charmante des Mannes, der die Liebe mit einem Krieg vergleicht.
Taras Konoshchenko, glücklicherweise wieder zurück aus seinem Heimatland, der Ukraine, ist ein stimmschwerer Verführer, passt also schon vokal ganz glänzend in die Neu-Interpretation des Werks. Der „echte“, erste Dulcamara heißt Michal Rudzinski; er ist ein Mitglied des Internationalen Opernstudios Nürnberg und leichter unterwegs, während es die Staatsphilharmonie Nürnberg unter dem Dirigat von Roland Böer an den deftigen Stellen krachen lässt (das Problem des Hauses) – und an den lyrischen blühen. Dass der Chor des Staatstheaters wieder exzellent aufgestellt ist, muss in Nürnberg nicht betont werden. In diesem Sinne: Addio! Also: Auf Wiedersehen und -hören, Frau Sofroniadou.
Frank Piontek, 24.6. 2022
Fotos: ©Bettina Stöß (der abgebildete Nemorino heißt Sergei Nikolaev)