Vorstellung am 28. September 2021
Körperintensive Dramatik
Am schönen Théâtre du Capitole Toulouse kam nun die Oper „La Gioconda“ von Amilcare Ponchielli mit dem Libretto von Arrigo Boito heraus, der das Libretto 1876 nach einem Schauspiel von Victor Hugo abschloss und mit dem Pseudonym « Tobia Gorrio » unterzeichnete. Als unbestritten erstklassiger Opernlibrettist verfügte Boito auch als Komponist über beachtliche Qualitäten, wie seine kürzlich bei den Bregenzer Festspielen aufgeführte unfertige Oper „Nerone“ beweist. „La Gioconda“ hatte 1876 ihre triumphale Uraufführung an der Mailänder Scala.
Die bemerkenswerte Inszenierung von Olivier Py nun in Toulouse kam schon 2019 am Théâtre Royal de la Monaie heraus. Py hat mit den weitflächigen und sich immer wieder eindrucksvoll wandelnden Bühnenbildern von seinem langjährigen Bühnenbild-Partner Pierre-André Weitz eine wirkmächtige und voller Dramatik und Exzessivität steckende Interpretation von Ponchiellis Meisterwerk um Macht, unerwiderte Liebe bis zu grausamer Gewalt und Mord zu dessen opulenter Musik geschaffen. Dunkle Schwarz-Weiß-Töne mit Neonröhren, typisch für die Ästhetik von Py und Weitz, dominieren das Geschehen, auch das Schwarz in Weitz‘ Kostümen, in diesem Fall besonders passend zum Plot. Das den Spielort Venedig bestimmende Wasser und seine Kanäle kommen darin zum Ausdruck, dass das ganze Stück auf einem Wasserspiegel stattfindet. Ständig hört man bei den Bewegungen der Protagonisten und erst recht des Balletts Wasserbewegungen. Und solche spiegeln sich bisweilen mystisch an den grauen Wandungen des palastartig den gesamten Bühnenraum umgebenden Raumes. Mit dem Wasser sollte aber auch eine der Handlung entsprechende Unterwelt, ein verwerfliches „Darunter“, insinuiert werden. Der architektonisch monumental anmutende Bühnenraum stellt sich mit einer manchmal atemberaubenden Changierbarkeit als nahezu fließendes Bühnenbild da. Einmal sieht man nahezu unendlich weit in die Tiefe, in einen Raum, aus dem es jedoch kein Entrinnen gibt. Dann kommt immer wieder eine Spielbrücke von oben auf die Mitte oder bis ganz auf die Bühne herunter, mit der Weitz die berühmte Seufzerbrücke im Dogenpalast von Venedig assoziiert. Auf ihr kommen zusätzliche Protagonisten in die Szene. Für Weitz ist die Vertikalität der Bühnenbilderveränderung Leitlinie seines Konzepts.
Immer wieder erlebt man auch die Liebe von Py und Weitz zu verschiedenen kassettenartig angeordneten Räumen im vertikalen Bühnenbild, wie Zimmer eines Palastes oder Kabinen eines Schiffes, mit denen sie parallel laufende Szenen gleichzeitig darstellen, die manchmal auch über Türen miteinander verbunden sind. Hier kontrastiert dann meist ein grelles Weiß das übliche Grauschwarz. In einer dieser Kassetten singt Enzo auch seine berühmte Arie „Cielo e mar“. Diese Bilder sind im Einklang mit der Aktion stets von starker dramaturgischer Intensität. Weitz will mit der ungewöhnlichen Variabilität des Bühnenraumes den Zusehern ein „dramaturgisches Kontinuum“ bieten. Dabei überrascht er immer wieder mit einer Detailfreude, wie das Hereinführen von zwei modernen Kreuzfahrtschiffen im 2. Akt, die wenig später brennend wiederkehren, mit echten Flammen, als Enzo sein Schiff in Brand gesetzt hat, um es nicht dem Feind in die Hand fallen zu lassen. MSC oder Costa Crociere als Assoziation zur zeitlichen Universalität des Stücks!
Natürlich stellt Py wie immer (man denke nur an seinen „Tannhäuser“ am Grand Théâtre de Genève 2005) stark ausgeprägte Körperlichkeit mit nackten Oberkörpern bis hin zu eindeutigen sexuellen Aktionen in den Vordergrund, vor allem bei den Ballett-Szenen. Das Maskenhafte des Karnevals von Venedig wird durch eine riesige weiß-schwarz-rote Clowns-Maske angedeutet, eine Reminiszenz an die commedia dell’arte. Sie soll aber auch die Maske der Politiker sein und steht meist für alles andere als karnevalistische Vergnügungen, z.B. die Inquisition und die Falschheit an sich. Dennoch entsteht mit ihr immer wieder ein Momentum von Poesie, einer Poesie, der man nie trauen kann, hinter der sich schlimmste Gefahren verbergen können. Py beginnt das Stück mit einem bizarren Auftritt des Tänzers mit dieser großen Maske in einer Badewanne, noch nichts Böses ahnen lassend… Es hat aber den Anschein, dass das leading team mit der Maske, die im Finale so groß ist, dass Barnaba aus einem ihrer Augen hervortreten kann, um wie Scarpia in Puccinis „Tosca“ das Versprechen der Hingabe Giocondas einzufordern, eine zweite Ebene in die Handlung einziehen wollten. Die stets exzellente Personenregie des Regisseurs mit Theaterpranke Olivier Py ist an diesem ganzen Abend offenkundig und beschert eine überaus dramatisch konzipierte Interpretation des Meisterwerks von Ponchielli.
Béatrice Uría-Monzon ist eine tragische Vollblut-Gioconda mit dunklen und charaktervollen Tönen ihres kraftvollen Mezzos, attraktiv mit langer roter Mähne. Emotional einnehmende, wie sie sich um ihre blinde Mutter kümmert. Judit Kutasi begeistert nach Verona im diesem Sommer als Laura einmal mehr mit ihrem perfekt geführten klangvollen und jugendlich dramatischen Sopran. Ramón Vargas ist ein einnehmender Enzo Grimaldo, nicht unbedingt von letzter tenoraler Eloquenz, aber die vielen Facetten der Rolle intensiv darstellend. Seine inbrünstig gesungene große Arie erntete viel Applaus. Roberto Scandiuzzi überzeugt in der üblen Rolle des Avise Badoero. Sein Spiel mit seiner zwangsweise mit ihm verheirateten Frau Laura ist an Perfidität kaum noch zu überbieten. Pierre-Yves Pruvot stellt sich als eine Idealbesetzung für den boshaften Barnaba heraus, und zwar mit einem erstklassigen Bariton stimmlich und einer raffinierten Darstellung. Der Jago war hier an allen Ecken und Enden zu hören und sehen. Er ist der Stippenzieher an diesem Abend, hat alles unter ständiger Kontrolle, mit oder ohne die Maske. Bis auf den allerletzten Moment, der ihm in Erwartung des Erreichens seines so ersehnten Ziels die leblose Gioconda beschert. Unglaublich sein emotionaler Ausbruch, als er das bemerkt!
Agostina Smimmero ist eine sehr gute und einnehmende Cieca, Mutter Giocondas. Sie gewinnt mit ihrer sehr authentisch wirkenden Blindheit große Sympathie beim Publikum und bekommt entsprechenden Applaus, obwohl die Rolle gar nicht groß ist. Roberto Covatta als Isepo, Sulkhan Jaiani als Zuane und Pilote sowie Hugo Santos als Barbabato und Chanteur sind gut in ihren Nebenrollen. Eine ungewöhnlich starke dramaturgische Rolle kommt dem stimmstarken Chor des Théâtre du Capitole und seinem Ballett zu, die beide viel Dynamik in das Geschehen bringen. Alfonso Caiani hat den Chor vokal bestens einstudiert. Das Ballett besticht mit phantasievollen und oft stark akzentuierten Bewegungen. Roberto Rizzi-Brignoli lässt das Orchestre nacional du Capitole sehr engagiert mit großer Intensität aufspielen und bietet dem stets in Hochspannung gehaltenen Geschehen den passenden musikalischen Rahmen. Eine Aufführung aus einem Guss! Langanhaltender kraftvoller Applaus mit vielen Bravo-Rufen des voll besetzten Hauses.
Fotos: Mirco Magliocca
Klaus Billand/13.10.2021