Würzburg: „The Rake’s Progress“, Igor Stravinsky

Besuchte Aufführung: 15. 7. 2014 (Premiere: 28. 6. 2014)

Die Welt als Irrenhaus

Einem Großteil des Publikums ist er durch seine Ballettmusiken ein Begriff geworden, der russische Komponist Igor Strawinsky. Aber auch eine abendfüllende Oper entstammt seiner Feder: „The Rake’s Progress“ – auf Deutsch: „Der Werdegang eines Wüstlings“ -, die jetzt am Würzburg eine eindrucksvolle Neuproduktion erfuhr.

Joshua Whitener (Tom Rakewell), Anne Trulove

Dem Werk zugrunde liegt ein aus acht Kupferstichen bestehender Bilderzyklus von William Hogarth, der auf den Komponisten im Jahre 1947 während des Besuches einer Ausstellung mit englischer Kunst in Chicago einen ganz nachhaltigen Eindruck machte. Strawinsky war von dem „Charakter des Theatermäßigen, das sich wunderbar auf die Bühne bringen lässt“, von den Bildern und deren Moral derart fasziniert, dass er sich spontan entschloss, sie zur Grundlage einer Oper zu machen. Das Libretto steuerten der Brecht-Übersetzer Wystan Hugh Auden und Chester Kallman bei. Aus der Taufe gehoben wurde das Werk am 11. 9. 1951 im Teatro La Fenice, Venedig durch das Ensemble der Mailänder Scala. Der Erfolg der Uraufführung war groß. Das mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass sich Strawinsky bei seiner Komposition alles andere als modern zeigte, sondern mehr an musikalische Stile der Vergangenheit anknüpfte. Wenn man sich „The Rake’s Progress“ heute unvoreingenommen anhört, würde man wohl kaum auf den Gedanken kommen, es hier mit einem erst dreiundsechzig Jahre alten Werk des Musiktheaters zu tun zu haben. Aufbau, Struktur, Harmonik und Klangfarben gemahnen eher an die Zeit der Klassik und des Barock. Auch romantische Einflüsse werden spürbar. Strawinskys Partitur weist die Form einer Nummernoper mit eingestreuten, vom Cembalo gespielten Rezitativen auf. Die Einflüsse eines Mozart und eines Rossini werden nur allzu deutlich. Man merkt außerdem Monteverdi, ein wenig Weber und sogar Verdi. Indes bleibt es nicht bei bloßen Zitaten aus den alten Ären. Die verschiedenen musikalischen Richtungen werden von Strawinsky sehr geschickt auf eine spielerische, ironisierende und parodierende Weise verarbeitet und darüber hinaus geschickt in neue Relationen zueinander gestellt. Heraus kommt ein recht beeindruckendes Potpourri verschiedener alter Stile, die auch von der Größe des Orchesterapparats stark an einen „Figaro“ oder eine „Cosi“ gemahnen.

Johan F. Kirsten (Nick Shadow), Joshua Whitener (Tom Rakewell)

Dieses beeindruckende Klanggemisch wurde von GMD Enrico Calesso und dem gut gelaunt, sehr versiert aufspielenden Philharmonischen Orchester Würzburg mit Bravour umgesetzt. Dirigent und Musikern ist eine eindrucksvolle Auffächerung der verschiedenen musikalischen Sphären bei stets unvermindert gleich bleibender frischer und intensiver Tongebung gelungen. Die spezifischen Coleurs wurden von Calesso sehr einfühlsam herausgearbeitet und zudem ein Maximum an Ausdruckskraft erreicht. Er hat schon ein ausgezeichnetes Gespür für die Tonsetzer vergangener Jahrhunderte, deren ganz persönlichen Tonfall, so wie von Strawinsky beabsichtigt, er ausgezeichnet in den Kontext der modernen Oper stellte und spannungsreich und klangschön vor den Ohren des zu Recht begeisterten Publikums ausbreite.

Sonja Koppelhuber (Baba the Turk)

Die Handlung ist ausgesprochen faustisch, weist aber auch Parallelen zu Mozarts „Don Giovanni“, zum Mythos und zum Märchen auf. Es geht um die Verführbarkeit des Menschen. Geschildert wird parabelhaft die Geschichte des jungen, noch ungefestigten Tom Rakewell, der unter dem Einfluss des diabolischen Nick Shadow, einem Wiedergänger des Teufels, einen zunehmend liederlichen Lebenswandel frönt, dabei seine Liebe zu Anne Trulove verrät und immer mehr zum Wüstling verkommt. Zwar gelingt es ihm am Ende, sich unter dem Einflusses Annes dem seine Seele fordernden Shadow zu entziehen, er verfällt aber, von diesem verflucht, dem Wahnsinn und landet in einer Irrenanstalt. Diese steht in der gelungenen Inszenierung des Würzburger Schauspieldirektors Stephan Suschke, der das Stück der heutigen Mode entsprechend als Rückblende aufrollt, am Anfang und am Ende des Geschehens. Wenn sich der Vorhang öffnet, fällt der Blick auf eine von Momme Röhrbein geschaffene Nervenheilanstalt, die in einer augenscheinlich den ausgehenden 1940er Jahren entstammenden maroden Villa angesiedelt ist. Hier wird bereits das Grundkonzept des Regisseurs deutlich. Im Angesicht der Trümmer des Zweiten Weltkrieges wartetet er mit einem gehörigen Schuss Gesellschaftskritik auf und wählt stellvertretend dafür das Einzelschicksal von Tom zum Aufzeigen der Auswüchse einer Gemeinschaft, die im Krieg ihres moralischen Überbaus verlustig gegangen ist und als Kollektiv versagt. Deutlich wird, dass die Wertmaßstäbe einer Gemeinschaft nur in dem Maße bestehen können, als sie auch von dem einzelnen Individuum beachtet werden. Wo diese gleich Rakewell der Liederlichkeit verfallen, muss auch die Gesellschaft ihren Halt verlieren und ins Abseits driften. Die Keimzelle eines gestörten Mikrokosmos infiltriert notwendigerweise auch den Makrokosmos. Das gilt allgemein und nicht allein für den nur äußerlich beschränkten Rahmen der Nervenheilanstalt, in der sich als Einheitsbühnenbild unter ständig neuen visuellen Variationen die gesamte Handlung abspielt. Die ganze Welt wird hier zum Irrenhaus voller grotesker, von Angelika Rieck reichlich überdreht eingekleideter Gestalten, die zu Beginn entzückt der aus einem alten Röhrenradio ertönenden Musik lauschen und sich dabei in reichlich aufgesetzt wirkenden Bewegungen ergehen.

Paul McNamara (Auktionator Sellem)

Es ist eine recht seltsame, absurd anmutende Menge, die von Suschke hier vorgeführt wird. Gleichzeitig wird aber auch offenkundig, dass es nicht nur die drückende Last der katastrophalen äußeren Umstände, der Nachkriegszeit, ist, die den Menschen zu guter Letzt den Halt verlieren und zerbrechen lassen, sondern immer auch seine eigene Verantwortung. Hier ist das Bekenntnis zu einem Jenseits von Gut und Böse nicht mehr möglich. Es wird ein klares Bekenntnis zum einem oder zum anderen gefordert. Unabhängig vom Ausgang der Wahl ist das Böse aber immer unter uns und kann unterschiedliche Masken annehmen. So ist Nick Shadow hier gleichzeitig der Vorsteher der Nervenheilanstalt, der ein Alter Ego der Puffmutter Mother Groose als Oberschwester eingestellt hat. Das weibliche Element wird aber eher etwas zurückgedrängt. Anne Trulove gelingt es trotz ihrer aufopferungsbereiten Liebe zu dem anfangs alten und im Rollstuhl sitzenden Tom nicht, ihn wieder in die Realität zurückzuholen; sie muss schließlich sein Schicksal teilen. Und die der Songkontest-Gewinnerin Conchita Wurst nachempfundene, schimpflustige Baba the Turk wird von Rakewell schließlich mit einer über sie geworfenen Decke ruhig gestellt. Es ist eine patriarchalisch geprägte Welt, in der nachvollziehbar auch Vater Trulove als Wärter des Irrenhauses ständig präsent ist. Hat die Welt unter diesen Umständen noch eine Chance auf eine Wendung zum Besseren? Suschke lässt die Frage offen. Insgesamt war sein Ansatzpunkt recht pessimistisch. Er hat ihn mit Hilfe einer ausgefeilten, logischen Personenregie schlüssig und kurzweilig umgesetzt, so dass der Abend wie im Fluge verging.

Anne Trulove, Joshua Whitener (Tom Rakewell), Statisterie

Fast durchweg auf hohem Niveau bewegten sich auch die gesanglichen Leistungen. Eine Ausnahme bildete leider der junge Joshua Whitener, der zwar rein darstellerisch die Entwicklung Toms vom lebenslustigen Jüngling zum bornierten Schönling und letztlich zum tragisch am Leben Gescheiterten trefflich vermittelte, stimmlich aber mit seinem zwar schönes Material aufweisenden, aber nicht im Körper sitzenden Tenor keinen guten Eindruck hinterließ. In dieser Beziehung wurde er vom Rest des homogenen Ensembles übertroffen. Johan F. Kirsten gab mit hervorragend fokussiertem, sonorem und eindringlichem Bass einen mephistomäßigen Nick Shadow, dem er auch schauspielmäßig voll entsprach. Einen wunderbar ebenmäßig und differenziert geführten Sopran bester italienischer Schulung brachte die nach langer Krankheit wieder genesene Silke Evers für die Anne Trulove mit, die sie auch rührend spielte. Einfach köstlich war die über einen profunden, gut sitzenden Mezzosopran verfügende Sonja Koppelhuber in der Partie der bärtigen Baba the Turk. Als hoch erotische Mother Groose gefiel die tadellos singende Barbara Schöller. Paul McNamara gab den Auktionator Sellem als kleinen Napoleon, den er mit kräftigem Heldentenor auch ausgezeichnet sang. Solide war auch Herbert Brands Trulove. Eine ansprechende Leistung erbrachte der von Michael Clark einstudierte Chor.

Fazit: Ein eindrucksvoller Abend, dessen Besuch die Fahrt nach Würzburg lohnt.

Ludwig Steinbach, 16. 7. 2014
Die Bilder stammen von Falk von Traubenberg