Eifersuchtsdrama aus London und Nijinsky-Gala XLVII
Traditionell werden die Ballett-Tage in Hamburg mit der Premiere einer Neuinszenierung eröffnet, zumeist in der Choreografie von John Neumeier. Den Ausnahmefall gab es in diesem Jahr mit der Übernahme einer Produktion vom Royal Ballet London. Dessen Starchoreograf ist seit einigen Jahren Christopher Wheeldon. Nach dem turbulenten Spektakel mit Alice’s Adventures in Wonderland 2011 triumphierte er drei Jahre später mit The Winter’s Tale nach Shakespeares Schauspiel. Wieder stammte die Musik von Joby Talbot, der sie mit viel Schlagwerk anreicherte, so dass sie gelegentlich etwas lärmend wirkt, aber sehr abwechslungsreich und effektvoll ist. Bob Crowley sorgte für eine Ausstattung zwischen Abstraktion und Romantik-Zitaten. Die Protagonisten stattete er mit historisch orientierten, sehr geschmackvollen Kostümen aus. OPUS ARTE hat die Uraufführung in Covent Garden für die DVD festgehalten, aber nun gibt es auch in Hamburg die Möglichkeit, sich ein Bild von dieser bewegenden Aufführung zu machen, denn die Londoner Uraufführungsproduktion wurde vom Hamburg Ballett als Deutschland-Premiere komplett übernommen.
Die Geschichte handelt von Leontes, König von Sizilien, der seine schwangere Frau Hermione der Untreue mit dem gemeinsamen Freund Polixenes, König von Böhmen, bezichtigt und sie ins Gefängnis werfen lässt. Dort bringt sie ein Mädchen zur Welt, das auf Geheiß Leontes ausgesetzt werden soll. Unter dem Namen Perdita wächst es bei böhmischen Schäfern auf und verliebt sich in Polixenes’ Sohn Florizel, was das versöhnliche Ende bringt und auch das sizilianische Königspaar wieder vereint.
In der 3. Aufführung am 3. 7. 2022 tanzte in manchen Rollen bereits eine neue Besetzung, angeführt von dem expressiven Edvin Revazov als Leontes, der die wahnhafte Eifersucht der Figur und ihren physischen wie psychischen Verfall bezwingend darstellt. Sein Jähzorn und die Brutalität gegenüber seiner Frau Hermione erinnern in der Konstellation an Othello und Desdemona. Anna Laudere gibt sie würdevoll und ergreifend in ihrer Wahrhaftigkeit. Wunderbar ist beider Tanz am Schluss, wenn der geläuterte Leontes voller Reue an einer Statue mit seiner vermeintlich toten Gattin und dem verstorbenen Sohn niederkniet, Hermione aber plötzlich zum Leben erwacht. Viele Jahre wurde sie von ihrer Hofdame Pauline vor dem Zorn des Gatten versteckt. Patricia Friza macht daraus eine tragende Rolle, ist einfühlsam, fürsorglich und selbstbewusst-energisch gegenüber Leontes. Karen Azatyan ist ein viriler Polixenes. Xue Lin als bezaubernde Perdita und Christopher Evans als vitaler Florizel sind ein ansprechendes junges Paar, das bei dem Schäferfest in Böhmen im 2. Akt seinen ersten Auftritt hat und am Ende Hochzeit feiern kann. In diesem 2. Akt hat die Compagnie ein wahrhaftes Tanzfest mit Frühlingsmaiden, Schäferinnen und Schäfern zu absolvieren, bei dem auch die von der böhmischen Folklore inspirierte Musik von großem Reiz ist. Zu den dramatischen und emotional ergreifenden Szenen der vielschichtigen Choreografie ist dieses Bild ein schöner Kontrast. Das Publikum honorierte die packende Aufführung mit großem Jubel. Mit ihr hat das Hamburg Ballett wieder ein Juwel im Repertoire.
Traditioneller Abschluss der Ballett-Tage ist stets die Nijinsky-Gala, die in diesem Jahr unter dem Motto Anniversaries stand. John Neumeier wollte an Gedenktage und Jubiläen, an Ur- und Erstaufführungen erinnern. Natürlich moderierte der Ballettdirektor das fünfstündige Programm wie immer selbst – mit Charme, feiner Ironie und großer Sachkenntnis. Der Abend des 3. 7. 2022 hatte einen fulminanten Auftakt, denn Schulerinnen und Schüler aus den Klassen VII und VIII der Ballettschule des Hamburg Ballett zeigten in einer Choreografie von Konstantin Tselikov, dem langjährigen Solisten der Compagnie, einen Gopak auf traditionelle Musik. Mit überschäumendem Temperament, vitaler Lebensfreude und bravourösem Können sorgten sie für enorme Begeisterung im ausverkauften Saal. Hier wachsen Solotänzer heran! Für Nachwuchs sorgt auch Das Bundesjugendballett, das in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert und in Neumeiers turbulenter Choreografie Opus 67 auf den 4. Satz von Schostakowitschs Klaviertrio sein Können demonstrieren konnte. Der Hauptanteil der gezeigten Arbeiten stammte vom Ballettdirektor, darunter einige seltene oder lange nicht gezeigte Kreationen, so aus A Cinderella Story, das er vor 30 Jahren schuf, die Ballszene mit der lebhaften Madoka Sugai in der Titelrolle und mit dem jungen Alessandro Frola, der als Prinz eine beachtliche Talentprobe abgab. Immer wieder hat sich Neumeier mit dem Leben und der Kunst des legendären Tänzers Vaslaw Nijinsky auseinander gesetzt. Davon zeugen mehrere Ballette, deren bedeutendstes Nijinsky ist, aus dem zwei größere Ausschnitte zu sehen waren. In „Jeux“ ist das biografische Umfeld des Tanzgottes von Bedeutung – neben Aleix Martinez in der Titelrolle waren Silvia Azzoni als Tamara Karsavina, Patricia Friza als Bronislava Nijinska, Ivan Urban als Serge Diaghilev und Atte Kilpinen als Leonide Massine zu sehen. In „Auf dem Schiff“ faszinierte Marc Jubete als lasziver Faun mit animalisch lüsternem Auftritt. 50 Jahre alt ist Neumeiers Nussknacker, der für das Ballett Frankfurt kreiert wurde und im Dezember 1974 nach Hamburg kam. Im Grand Pas de deux gab die Erste Silotänzerin der Compagnie, Leslie Heylmann, ihren Abschied von der Bühne, bleibt aber Hamburg erhalten und wird künftig in der Ballettschule tätig sein. Als Louise bezauberte sie noch einmal mit ihrer frischen Aura und der technischen Souveränität. In Matias Oberlin hatte sie als Günther einen eleganten Partner, der mit wirbelnden Pirouetten und Sprüngen brillierte. Emilie Mazon war eine reizende Marie.
In jeder Gala sorgen Gäste für den gebührenden Glanz. Hier waren es die Principals Mayara Magri und Matthew Ball vom Royal Ballet London, die eine Szene aus der letzten Schöpfung von Kenneth MacMillan zeigten. Der britische Choreograf nannte sie Carousel und nutzte als Vorlage Molnárs Liliom. Zu Richard Rodgers zauberhafter Musik begeisterten beide mit Temperament und Bravour. Abschluss und Höhepunkt des ersten Programmteils war der Auftritt von Olga Smirnova und Jakob Feyferik vom Het Nationale Ballett. Die russische Assoluta hat mit Beginn des Krieges in der Ukraine ihre langjährige Wirkungsstätte, das Bolshoi Theater Moskau, verlassen und wird nun in Amsterdam umjubelt. Das Duo zeigte in überwältigender Manier den Pas de deux 3 Gnossiennes von Hans van Manen, der am 11. Juli dieses Jahres seinen 90. Geburtstag begeht, auf Musik von Eric Satie. Mit schwerelosen Hebungen und in Vollendung zelebrierten Figuren war dieser Auftritt von einer solchen Präzision, Harmonie und Perfektion, dass er an ein Wunder grenzte. Ähnliches ist vom zweiten Beitrag gegen Ende des Abends zu berichten: Mit dem Grand Pas Classique auf Musik von Auber gab es in der Choreografie von Victor Gsovsky, der vor 120 Jahren geboren wurde, Ballettklassik pur zu erleben. Es ist dies eine Gala-Nummer par excellence, gespickt mit spektakulären Effekten und Höchstschwierigkeiten in den Variationen. Mit welcher Mühelosigkeit und Virtuosität die beiden Tänzer diese Herausforderung bestanden, sorgte für Beifallsstürme im Saal.
Der komplette 2. Teil war Gästen vom Ballett am Rhein Düsseldorf gewidmet, die Neumeiers from time to time zeigten, das zurückgeht auf Balanchines Die vier Temperamente und diese nun in neuen Versionen bringt. Zu sehen ist Neumeiers Sichtweise auf die Melancholie, wofür er „The Dangling Conversation“ von Simon & Garfunkel kühn mit dem 1. Satz von Schuberts Klaviersonate B-Dur kombinierte. Michal Bialk spielte sie live sehr einfühlsam. Die Tänzer, angeführt von Julio Morel, der in einer tour de force Unglaubliches leistete, setzten in einer dramatisch packenden performance starke Akzente.
Im 3. Teil waren weitere Raritäten aus dem Schaffen von John Neumeier zu sehen, so sein 1996 für das Ballett Dresden entstandenes Stück L’Après-midi d’un Faune auf die Musik von Debussy, das für die Gala in neuer Besetzung einstudiert wurde. Edvin Revazov, Anna Laudere und David Rodriguez boten eine aufregende ménage à trois. In Don Juan gab es ein Wiedersehen mit der ständigen Gastsolistin der Compagnie, Alina Cojocaru. Der Choreograf hatte das Stück, eigentlich ein Requiem für Don Juan, zuerst in Frankfurt herausgebracht und es dann für einen Auftritt von Rudolf Nurejew beim National Ballet of Canada umgearbeitet. Der Star bekam ein neues, anspruchsvolles Solo, in welchem in Hamburg Alexandr Trusch glänzte und sich in wahrhafter Nurejew-Attitüde präsentierte. Die Cojocaru berührte als weißer Todesengel, der den Helden verfolgt, sich mit ihm verschlingt und ihn am Ende sanft mit sich in das andere Reich zieht. Eine signature-Choreografie des Hamburg Ballett ist die Dritte Sinfonie von Gustav Mahler, die zu Beginn der nächsten Spielzeit wieder aufgenommen wird. Einen Vorgeschmack gab es schon jetzt mit dem 4. Satz, geboten von einer Neubesetzung mit Xue Lin, Karen Azatyan und Jacopo Belussi. Gerhild Romberger sang das Alt-Solo mit Intonationstrübungen und auch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Nathan Brock ließ hier Bläsermisstöne hören. Insgesamt zeigte es sich aber den verschiedenen musikalischen Stilen als souverän gewachsen. Der lange Abend konnte nicht vitaler und temperamentvoller ausklingen als mit dem 3. und 4. Satz der Sinfonie Nr. 7 aus dem Beethoven-Projekt II – ein überschäumendes Fest der Lebensfreude mit dem Farbenrausch der Kostüme von Albert Kriemler – A-K-R-I-S-. Madoka Sugai und Alexandr Trusch, Emilie Mazon und Atte Kilpinen sowie Anna Laudere und Edvin Revazov wirbelten und schwebten über die Bühne, dass der Jubel danach kein Ende nehmen wollte. Wie immer gab es standing ovations, üppige Blumengebinde (von HOME flowers) und bunten Konfettiregen.
Bernd Hoppe 7.7.22