Besuchte Vorstellung am 29. April 2017, Premiere am 27. April 2017
Freiheit der Emotionen
Die bereits zum 15. Mal stattfindenden Movimentos Festwochen stehen in diesem Jahr brandaktuell unter dem Motto „Freiheit“. Damit setzte sich auch das Nederlands Dans Theater I auseinander, das bereits als eigene Company im Frühjahr 1959 gegründet wurde, als ein gutes Dutzend Tänzer des Niederländischen Nationalballetts etwas Neues schaffen wollten. In den vergangenen knapp 60 Jahren hat sich diese Company zu einer herausragenden Gruppe entwickelt, in der Ballett, Modern Dance und zeitgenössische Techniken verbunden werden. Künstlerischer Leiter des NDT ist derzeit Paul Lightfoot, der gemeinsam mit Sol León auch als Hauschoreograf fungiert und sich stark für die künstlerische Freiheit des Experiments einsetzt. Die Zusammenarbeit der beiden Künstler funktioniert sehr gut: „Stücke zu entwickeln ist für uns wie Kinder zeugen, dazu braucht es auch zwei Pole“/“Wir versuchen, die Emotion direkt umzusetzen und verzichten eher auf Handlung“ (aus einem Interview mit Paul Lightfoot in der Braunschweiger Zeitung vom 28.4.). Davon konnte man sich in zwei Werken überzeugen: „Safe as Houses“ („Sicher wie Häuser“) und „Shutters Shut“ („Rollläden zu“).
Zu der Choreografie „Safe as Houses“ (2001) wurden Sol León und Paul Lightfoot durch einen der ältesten klassischen Texte „I Ging“ („Buch der Wandlungen“) aus dem 3.Jahrtausend v.Chr. inspiriert. Nachdem sich drei schwarz gekleidete Tänzer mit kraftvoll eleganten Bewegungen aus dem Dunkel geschält haben, zeigen sie im Wechsel mit vier Paaren – auch als Individuen agierend – auf einer hellen Bühne mit einer langsam kreisenden weißen Mauer zu Musik von Johann Sebastian Bach raffinierte Soli und Pas de deux mit weich fließenden Aktionen – ein reiner Genuss. In „Shutters Shut“ wird das dadaistische Gedicht von Gertrude Stein „If I Told Him: A Completed Portrait of Picasso“ dargestellt: Jedem Wort bzw. jeder kleinen Phrase sind bestimmte virtuose Bewegungen zugeordnet; eine Tänzerin (Sarah Reynolds) beginnt zu einer historischen Aufnahme – von Gertrude Stein selbst gelesen – und nach kurzen Wiederholungen gesellt sich ein Tänzer (Chuck Jones) dazu und sie tanzen gemeinsam, was zu witzig grotesken Abläufen führt. Das war einmal ein etwas anderes Tanztheater!
Das NDT brachte auch zwei neue Kreationen mit, die 2016 entstanden sind und bei den „Movimentos“ ihre Deutschlandpremiere erlebt haben. So hat der häufiger mit dem Ensemble arbeitende Gastchoreograf Marco Goecke mit „Woke up Blind“ („Blind erwacht“) zwei Songs des legendären Jeff Buckley verwendet, die von der Liebe handeln: Sein Bewegungskanon imitiert die Tierwelt sowohl mit kurzen schnellen Aktionen als auch mit ruhigen beobachtenden Momenten, wobei ich das „nervöse Herumflattern“ zu dem ruhigeren Lied „You and I“ als nicht so passend empfand, während es zu dem flotten „The Way Young Lovers Do“ ideal war.
Das originelle „Salt Womb“ („Salziger Mutterleib“) des Choreografen-Duos Sharon Eyal und Gai Behar hatte ebenfalls Deutschlandpremiere. Zu überlauten wuchtigen Techno-Bässen wie in einer Industriehalle war hier das elf-köpfige Ensemble durchgängig gefordert: Aus einem Kreis mit dem „Leitwolf“ in der Mitte wurde zunächst synchron Imaginäres sehr langsam gehoben und wieder gesenkt; nach und nach befreite sich mal der Eine oder die Andere daraus und versuchte, Eigenes beizusteuern, um kurz darauf wieder in die synchrone Masse zurückzukehren. Allmählich verdichtete sich diese zu einem Pulk, der aber kaum eine Berührung des Nächsten zuließ. Diese 26 Minuten so spannend durchzuhalten war eine besondere Konzentrations- und Kraftleistung des NDT.
Es war ein durchweg spannender Abend, der mit viel Applaus und Standing Ovations belohnt wurde.
Marion Eckels, 30. April 2017
Fotos: Rahi Rezvani
Weitere “Movimentos”-Ballettabende:
4. – 7. 5. Vertigo Dance Company, Jerusalem
10. – 13. 5. Israel Galván, Sevilla
18. – 20. 5. Göteborgs Operans Danskompani/Eastman