Konzert am 25. Juni 2021, Max-Littmann-Saal Bad Kissingen
© Daniel Karmann
Das Residenz-Ensemble des „Kissinger Sommers“, die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, ist in jeder Hinsicht ein außergewöhnliches Orchester.
Nachdem Musikstudenten 1980 auf der Nordseeinsel Föhr das „Kammerorchester der Jungen Deutschen Philharmonie“ gegründeten, lief zunächst alles streng basisdemokratisch: jeder Geiger musste auch mal Stimmführer sein und für Dirigate galt ein Rotationsprinzip.
© Julia Baier
1987 erfolgte eine Institutionalisierung des losen Zusammenschlusses zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts als professionelles Kammerorchester. Seit 1992 hat das Orchester seinen Sitz in Bremen.
Nur für die Musik wollten die Orchestermitglieder leben. Da sie aber den Umgang mit Finanzen kaum beherrschten, stand 1998 jeder Musiker für einen Schuldenberg von 1,5 Millionen DM in der Haftung.
Der Klangkörper stand vor der Auflösung, als der Musiker Albert Schmitt entschied, seinen Kontrabass zur Seite zu stellen, um sich als Manager zu erproben. Mit breiter Unterstützung, auch von außen, baute er das Orchester zum Unternehmen mit professionellem Marketing und einer systematischen Marktstrategie, einer GmbH mit etwa vierzig Gesellschaftern um.
Mit dem Wirtschaftswissenschaftler Christian Scholz (1952-2019) entwickelte das Orchester aus dem simplen Umstand, dass man mit zwei Klangfolgen, je nachdem ob man diese nacheinander oder gleichzeitig abspielt, Wohlklang oder Dissonanzen erzeugt, eine Trainingsmethode, die es sichert, unabhängig von jeweils aktuellen Bedingungen Hochleistungen zu erbringen.
Diese als 5-Sekunden-Modell bezeichnete Erfolgsformel weist nach, dass nichtpermanente Harmonie, sondern der bewusste Umgang mit Dissonanzen und Konfliktspannungen der Schlüssel zum Erfolg von Hochleistungs-Teams ist: Hierarchie und Demokratie, Notwendigkeit und Sinn, Perfektion und Abenteuer, Energie und Konzentration, Erfolg und Spaß.
Damit ist auch zu erklären, dass die Orchester-GbR mit ihrer Gesellschafterstruktur, der Selbstorganisation und des Konsenszwangs, der Mitverantwortlichkeit des Einzelnen für den Erfolg des Ganzen, den letztlich hierarchischen Orchesterbetrieb in hoher Qualität bewältigt.
© Julia Baier
Während in der reichen deutschen Orchesterlandschaft die öffentlich rechtlichen Klangkörper vorherrschend mit 80 bis 90 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, erwirtschaftet die Bremer Kammerphilharmonie mit Konzerteinnahmen, Vermarktung von Bild bzw. Tonrechten, Honoraren und Sponsoring über Zweidrittel des gesamten Budgets.
Im Jahre 2004 hat der weltweit agierende Paavo Järvi (geboren 1962 in Estland) die Künstlerische Leitung der Musikerformation übernommen und zu einem weltweit führenden Orchester geformt. Järvi hat, wie er mir versicherte, trotz vielfältiger Verpflichtungen absolut nicht die Absicht diese Aufgabe aufzugeben. Für ihn sind die „Bremer“ das absolute Dream-Team. Er kenne kein anderes Orchester, in dem die Musiker derart begeistert an Interpretationen arbeiten, proben und im Konzert musizieren. Hinter dem Erfolg, jenseits konventioneller Interpretationen, stehen umfassende Auseinandersetzungen mit den Komponisten und deren Werke.
Das seit 1986 von der Gründungs-Intendantin Kari Kahl-Wolfsjäger in einer dreißig Jahren währenden Tätigkeit zu schönem Erfolg geführte Festival „Kissinger Sommer“ musste im Jahre 2020 erstmalig ausfallen und war auch 2021 von einem kammermusikalisch geprägten Programm gekennzeichnet.
Selbst das Residenzorchester aus Bremen konnte nur einen Konzert-Tag bestreiten.
Im 1913 erbauten Max-Littmann-Saal hatten die Festspielorganisatoren die ersten Sitzreihen demontieren und das Podium um vier Meter verlängern lassen. Die größeren Abstände der Musiker schienen aber kaum Einfluss auf die hervorragende Klangentfaltung in der mit Kirsch- und Ebenholzwänden ausgestatteten „Schuhschachtel“ zu haben.
Igor Levit, © Robbie Lawrence
Igor Levit, der seine großartige Karriere als Empfänger des Luitpold-Preises des Fördervereins Kissinger Sommer 2009 begann, war nach Bad Kissingen gekommen, um mit der Bremer Kammerphilharmonie und Paavo Järvi Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr.4 G-Dur op.58 zu interpretieren.
Wie improvisierend zart begann Levit das Allegro moderato, ging aber dann direkt in medias res und bringt seine eigene Handschrift zur Geltung. Paavo Järvi ließ das Orchester den Solopart zunächst in einen luftig-transparenten Klangteppich einhüllen, bevor sich das dialogisierende Zusammenspiel von Klavier und Ensemble entwickelte.
Auch im langsamen Satz ließ der Dirigent dem Solisten ausreichend Raum, seine Virtuosität mit einem farbigen Spiel zu entfalten, während im Rondo nach der Kadenz vom Orchester dem Klavier ordentlich Gegenwind geboten worden war.
Die Interpretation des formal vielleicht aufregendsten Klavierkonzert Beethovens war spannungsreich ausformuliert und ließen eigene Handschriften vom Solisten und des Orchesters erkennen.
Mit Pulcinella hatte Igor Strawinsky (1882-1971) mit lockerer Hand aufgefundene Handschriften von Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736) zu einer Ballettmusik verarbeitet und daraus eine neunsätzige Suite zusammengestellt. Strawinsky nahm die barocken Melodien nicht unbedingt ernst und verarbeitete sie spielerisch, fast übermütig. Es war eine Freude, wie ungewöhnlich modern der mitunter beschauliche Neobarock ohne die oft zuhörenden wuchtigen großen Besetzungen mit den 41 Bremern klang. Unter der sorgfältigen Zeichengebung Järvis entwickelten sich die polyrhythmischen Wendungen, mit denen Strawinsky die Musik Pergolesis übermalt hatte, mit Biss, Frechheit und Radikalität. Mit Freude erlebten wir eine elegante, makellos e Orchestervirtuosität, anmutig wo es sein sollte und augenzwinkernd pfiffig wo es angebracht war. Besonders großartig erwiesen sich die Tarantella und das Finale.
Mit einer feurig gespielten Beethoven-Zugabe verabschiedeten sich Paavo Järvi und die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen für 2021 von Bad Kissingen.
Für den amtierenden Intendanten Tilman Schlömp waren die Festspiele 2021 seine letzten. Ab dem Veranstaltungsjahr 2022 übernimmt der bisherige Orchesterdirektor des Deutschen Symphonieorchesters Berlin, Alexander Steinbeis (geboren 1974) die Leitung des Festivals.
Thomas Thielemann