Premiere am 10. September 2017
„Ich kenne viele Physiker und viele Irrenhäuser.“ (Dürrenmatt, 1962)
"So vermag heute jeder Esel eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen, oder eine Atombombe zur Explosion" sagt Newton im Stück. Kann ein Stück eigentlich aktueller sein, als Dürrenmatts DIE PHYSIKER? Wer denkt da momentan nicht sofort an den Idioten in Nordkorea oder den Irren in Amerika. Der Spiegel sprach 1962 von einem "Zeitstück". Heute könnte man es ein "zeitloses Zeitstück" nennen. Da es auch heuer in NRW Abiturthema ist, kommt das wunderbare Stück nun auch wieder überall ins Theater. Von einer vorbildlichen publikumsfreundlichen Produktion aus dem RLT-Neuss sei hier zu berichten.
Es zeigt sich, daß der im Original noch seitenweise und umfangreich beschriebene reale und detailreiche Rahmen, das Ambiente und die Ausstattung eigentlich überflüssiger Ballast ist, um zur Kernaussage des Dramas (Ist es wirklich ein Komödie?) zu kommen. Das Team um Regisseur Reinar Ortmann (Dramaturgie: Anna-Lena Schulte) hat es geschafft das Stück aus den 60ern ordentlich zu entrümpeln und zu kürzen, um sich auf die sechs Kernpersonen zu konzentrieren. Das führt zu einer knapp 80-minütigen, enorm dichten Aufführung, welche die Zuschauer gebannt und ohne Längen fesselt. Bravo! So sollte Theater immer sein.
Im Zentrum der weiß gekachelten steril medizinisch wirkenden Einheitsbühne, deren Platten eine Art M.C.-Escher-Muster zieren, liegen drei große Sitz-Gymnnastikbälle, die vielfältig und raffiniert dramaturgisch eingesetzt werden. Die Kostüme sind so einfach wie überzeugend.
Die Protagonisten tragen graue Ganzkörper-Hoodles, worin sie stellenweise so harmlos und friedlich aussehen wie kleine Kinder im Sandkasten, es fehlen nur noch die Hasenohren. Harvey lässt grüssen. Anfangs noch harmlose, liebenswerte Irre, lenkbar, leicht zu behandeln und anspruchslos. Musterpatienten. Welcher Chefarzt möchte solcherlei Klientel nicht heute auch noch haben.
Dr. von Zahnds raffiniertes gestyltes Schwarz-weiß-Kostüm – passend zum Haarschnitt – wirkt irgendwie futuristisch und erinnert den Rezensenten fern an die legendäre einstige SW-Kultserie Raumpatrouille oder könnte vom Stylisten einer Emma Peel stammen.
Kommissar Voss darbt im schäbigen beamtenbraunen Kittelmantel eines Inspector Columbo und Schwester Monika (Bild unten) ziert ein ultrasexy kurzes Schwesterndress, dabei ist die ein wenig gestylt wie Uma Thurman in Pulp Fiction. Kost fürs Auge und die Sinne, denn in deren Einfachheit steckt doch ein nicht unerhebliches Maß an Genialität; mehr braucht es nicht. Was für eine großartige Arbeit von Ivonne Theodora Storm (Bühne und Kostüme).
Am Ende stehen die drei Physiker, wie lebende Statuen angeleuchtet in einem Museum gefangen, in ihrer Größe angepassten Portalen und zitieren im Kontinuum ihren historischen Lebenslauf; welcher am Ende an das altbekannte Sprachwirrwarr heutiger Talkshows – wenn alle gleichzeitig reden – erinnert. Das Licht dämmert ihr nicht enden wollendes Geplapper. Nun sind sie wirklich Irre geworden.
Darstellerisch bieten Philipp Alfons Heitmann (Möbius), Stefan Schleue (Newton) und Joachim Berger (Einstein) tolle Charakterisierungen. Die Zustände von Geisteskranken bzw. scheinbar Geisteskranken werden in allen Klichées ausgelebt; geradezu bedrohlich und erschütternd überzeugend. Skurril artifiziell ist Alina Wolf als Schwester Monika, die ebenso unberechenbar erscheint, wie ihre Pflegebedürftigen – zumindest so lange bis sie nach Hitchcock-Art ("Frenzi"), wie ihre Kolleginnen mit einer Krawatte erwürgt wird.
Katharina Dalichau (Sanatoriumsleiterin) ist eine Art Dr. Seltsam. Sie ist nicht "buckelig" und hässlich, wie Dürenmatt sie haben wollte – im Gegenteil: Sie spielt die Rolle der scheinbar friedlich verständnisvollen Leiterin, die am Ende zu einer Art unheimlichen Weltbeherrscherin geriert, ganz herrlich überzeugend – schon fast wie die wenig dämonischen, aber dafür zynischen Weltbeherrschungs-Bösewichte eines James-Bond-Klassikers.
Hier brauchen die Irren – wieder ein Filmbild, sorry 😉 – nicht übers legendäre Kuckucksnest zu fliegen. Sie werden einfach weggeschlossen. Übrigens eine Praxis, die in den 60ern noch ganz normal war, um nicht nur Querdenker, sondern auch missgünstige Angehörige oder nicht sterben wollende Erbonkel und -Tanten aus der realen Welt zu schaffen. Und – damals zumindest! – spielten die sogenannten Psychiater und Irrenärzte in dem schmutzigen Spiel gnadenlos mit.
Mal wieder spannendes Theater in Neuss. Unterhaltsam gestraffte und ganz "easy" zu rezipierende Weltliteratur vom Feinsten. Verehrte junge Theatergänger: bitte reingehen! Danach gibt es noch viel zu diskutieren über diese heile böse Welt….
Peter Bilsing 1.10.2017
Bilder (c) RLT
P.S.
Wieder auch vorbildliche Arbeit der Dramaturgie/Pressestelle, zur Vor- und Nachbereitung, denn die Links auf der Internetseite des Theaters (Wenn Sie mehr wissen wollen) liefern weitere Informationen zu Dürrenmatts Leben; u.a. Ein Interview mit Friedrich Dürrenmatt in der „Zeit“, eine Rede von Helmut Schmidt über die Verantwortung von Wissenschaftlern im 21. Jahrhundert, Einsteins Brief an Franklin D. Roosevelt und einen schönen Artikel der "Welt" zu König Salomo.