Auf Bayerische Staatsoper Recordings, dem hauseigenen Label des Nationaltheaters München, ist ein bereits im Jahre 2017 entstandener Live-Mitschnitt von Giordanos Oper Andrea Chenier erschienen. Die Inszenierung liegt in den Händen von Philipp Stölzl, der zusammen mit Heike Vollmer auch das Bühnenbild entworfen hat. Für die Kostüme ist Anke Winckler verantwortlich.
Die Regiearbeit von Philipp Stölzl ist stark der Welt des Films entlehnt, aus der der Regisseur ja auch stammt. Diese Vorgehensweise legitimiert sich nach Stölzls Meinung direkt aus der Partitur: Im Booklet bemerkt er, dass sich in Giordanos Musik kurze szenische Bögen wie im Kino finden würden. Das ist die Parallele des Andrea Chenier zum Film. Letzterer ist das prägende Stilmittel der Produktion. Da ist es eigentlich nicht weiter verwunderlich, dass das Regieteam die Handlung in der Zeit der Französischen Revolution belässt und das Ganze in einem konventionellen Rahmen erzählt. Nun sind traditionelle Sichtweisen nicht so sehr mein Fall. Im vorliegenden Fall ist aber zu konstatieren, dass Stölzls Arbeit durchaus einige gute Ideen aufweist. Das beginnt schon bei dem Bühnenbild, das von mehreren neben- und übereinander liegenden Räumen dominiert wird. Der Regisseur spricht im Booklet von einer Welt im Querschnitt, in der das alltägliche Leben stattfindet. Oben befindet sich im ersten Akt die Welt des elegant gekleideten Adels, unten hausen die in ärmliche, dunkle Gewänder gewandeten Domestiken. Gekonnt zeigt Stölzl hier eine Parallele zu Verhältnissen unserer Zeit auf und betont, dass die heutigen Gegensätze zwischen den reichen Industriestaaten und den Ländern der Dritten Welt mit den damaligen Gegebenheiten in Frankreich durchaus vergleichbar sind. Im zweiten Akt ist die Situation umgedreht. Die ehemalige Unterschicht residiert im oberen Bereich, während die Adeligen in der Unterwelt gefangen sind und wohl auf ihre Hinrichtung warten.
Mit einer ausgeprägten Personenregie schildert der Regisseur, wie sich die Französische Revolution auf die Gesellschaft und die zwischenmenschlichen Beziehungen auswirkt. Das gelingt ihm gut. Bei Maddalena haben die Schecken der Revolution zu einem ausgemachten Trauma geführt. Dieses versucht sie zu überwinden, indem sie sich in eine Scheinwelt flüchtet. Am Ende stirbt sie zusammen mit Chenier einen ausgemachten Liebestod auf dem Schafott. Diese Liebe kann erst durch das einzige Bindeglied entstehen, das zwischen den beiden jungen Leuten besteht: Die Poesie, der beide in hohem Maße zugetan sind und deretwegen sie sich vom echten Leben abwenden. Sie leben gleichsam nur noch in der Dichtkunst. Diese aber hat gegenüber der Revolution keine Chance. Demzufolge sind auch ihre Anhänger zum Scheitern verurteilt. Dabei ist Chenier hier nicht sonderlich positiv gezeichnet. Ein Held ist er in Stölzls Deutung nicht. Vielmehr findet er sich in der Stellung eines Außenseiters wieder, der sich von der Gesellschaft abwendet und lieber ausschließlich in der Welt der Poesie lebt. Aktiv verhält er sich wahrlich nicht. Vielmehr zieht er sich in eine innere Emigration zurück und wartet, was auf ihn zukommt. Der Tod bedeutet für ihn eine Weltflucht, wie der Regisseur es im Booklet ausdrückt. Nein, das Image eines Helden hat er wirklich nicht. Dieser Vorzug kommt bei Stölzl vielmehr Gerard zu, der die größte, positivste Entwicklung durchmacht und seine inneren Dämonen nachhaltig zu besiegen versteht. Er wird in dieser Inszenierung vom Regisseur so stark gezeichnet, dass die Oper eigentlich Carlo Gerard heißen sollte. Das alles ist trotz des traditionellen Rahmens durchaus überzeugend.
Gut zu gefallen vermag Marco Armiliato am Pult des Bayerischen Staatsorchesters. Mit trefflichem Gespür für Giordanos ausgeprägte veristische Klangwelten erzeugt der Dirigent zusammen mit den bestens aufgelegten Musikern einen gewaltig siedenden Klangteppich von großer Opulenz und Intensität, der sich zudem durch eine reichhaltige Farbpallette auszeichnet. Emotionalität wird hier ganz groß geschrieben. Den Sängern ist Armiliato dabei ein umsichtiger Begleiter.
Insgesamt zufrieden sein kann mit den vokalen Leistungen. Jonas Kaufmann ist ein in jeder Beziehung überzeugender Andrea Chenier. Er spielt den Dichter mit großer Verve und gibt ihm mit seinem profunden, baritonal timbrierten und ausdrucksstarken Tenor auch stimmlich ein ansprechendes Profil. Übertroffen wird er indes von Anja Harteros, die die Maddalena zu einer ihrer absoluten Glanzrollen zählen darf. Schon wie sich rein schauspielerisch in ihre Rolle stürzt, ist in hohem Maße beeindruckend. Und wie phantastisch mutet erst ihr Gesang an, der von einer wunderbaren italienischen Technik, hervorragender Linienführung und einer sehr gefühlvollen, warmen Tongebung bestimmt wird. Das ist die beste Leistung auf dieser DVD! Ebenfalls einen exzellenten Eindruck hinterlässt George Petean, der sich mit ausgeprägter Spiellaune und einem markanten, kernigen Bariton als Idealbesetzung für den Gerard erweist. Eine voll und rund singende Bersi ist Rachael Wilson. Gefällig gibt Helena Zubanovich die kleine Partie der Contessa di Coigny. Sehr ebenmäßig, vorbildlich fokussiert und mit viel Gefühl präsentiert Larissa Diadkova die Arie der Madelon. Für den Roucher bringt Andrea Borghini ordentlich sitzendes, angenehmes Bariton-Material mit. Solide präsentieren sich die tadellos intonierenden Johannes Kammler (Fleville), Christian Rieger (Fouquier-Tinville), Tim Kuypers (Mathieu) und Callum Thorpe (Il Maestro di casa und Schmidt). Bei Ulrich Reß und Kevin Conners als L‘ Abate und L‘ Incredibile mangelt es an einer Körperstütze ihrer flachen Tenöre. Unauffällig bleibt Alexander Milevs Dumas. Eine gefällige Leistung erbringt der von Stellario Fagone einstudierte Bayerische Staatsopernchor.
Ludwig Steinbach, 16. August 2023
Umberto Giordano: Andrea Chenier
Bayerische Staatsoper
Inszenierung: Philipp Stölzl
Musikalische Leitung: Marco Armiliato
Bayerisches Staatsorchester
Bayerische Staatsoper Recordings
Best.Nr.: BSDREC1004
1 DVD