Auf dem Dach der Staatsoper unter den Linden weht die ukrainische Flagge, zwischen den Säulen des Portals prangen die ukrainischen Farben, und auch die Akkustikhöhlen des Deckenbereichs im Zuschauersaal sind blau-gelb illuminiert. Auf der Bühne schreitet die umstrittene russische Opernsängerin Anna Netrebko während der Orchestereinleitung als Lady Macbeth mit erhobenem Schwert über ein mit Leichen bedecktes Schlachtfeld, während im Hintergrund schwarze Rauchsäulen ausbrennenden Dörfern und Städten emporsteigen. Obwohl Harry Kupfers Inszenierung von Verdis meisterhafter Oper MACBETH aus dem Jahr 2018 stammt, könnte sie aktueller kaum sein und beweist damit ihre überragende Qualität.
Heftig wird seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine darüber gestritten, ob russische Künstler, die in der Vergangenheit eine gewisse Nähe zum Kreml gezeigt haben, im Westen noch Geld verdienen und auftreten dürfen. Als prominenteste Zielscheibe für Agitation gegen Engagements russischer Künstler haben sich gewisse Gruppierungen die wohl zurzeit bekannteste Sopranistin der Welt ausgesucht, Anna Netrebko. Man hat von ihr öffentliche Distanzierungserklärungen vom Regime Putins verlangt und Verurteilungen des Krieges. Als sie diese geliefert hatte, wurde ihr unterstellt, das sei nicht ehrlich gemeint und sowieso nicht genug. Ja, wo sind wir denn? Wer erwartet, dass Netrebko und andere exakt das sagen, was wir gerne hören möchten, verficht einen absolutistischen Anspruch auf die eigene, oftmals moralinsaure, unanfechtbare „Wahrheit“ und verweigert jeglichen Dialog. Anstatt Anna Netrebko als Sündenbock auf populistische Art zu desavouieren, sollte man sich dem respektvollen Austausch von Argumenten stellen. Konflikte mit Gewalt und Gegengewalt zu lösen versuchen funktioniert nicht mal auf den Schlachtfeldern dieses Planeten und schon gar nicht im kulturellen Bereich. Anna Netrebko ist NICHT mit angeschlagener MP in Kiew einmarschiert, ihre Gage finanziert keine russischen Waffen (als nun österreichische Staatsbürgerin hat sie ihren Hauptwohnsitz dort). Sie hat sich für Frieden ausgesprochen, das muss uns reichen. Die Folge davon waren Auftrittsverbote in Russland. Und Hand aufs Herz: Würden wir in der Fremde regimefeindliche Äußerungen gegen unser Heimatland (dem wir eventuell auch viel zu verdanken haben) tätigen im Wissen, dass Angehörige zu Hause den brutalen Arm der Machthaber als Retorsionsmaßnahme mit größter Wahrscheinlichkeit zu spüren bekommen werden? Guido Pauling vom NDR formulierte die Sache Netrebko in einem Kommentar so: „Wer sich derart im Besitz der Wahrheit wähnt [gemeint sind die Hetzer gegen Netrebko], ist in meinen Augen ein größeres Hindernis für gesellschaftlichen Frieden als eine Verdi singende Operndiva oder ein Schostakowitsch aufführender Stardirigent [gemeint ist Teodor Currentzis].“
Am Freitag demonstrierten etwas über hundert Netrebko-Hasser vor der Staatsoper gegen den Auftritt der Sängerin, gestern am Sonntag marschierten einige Russland-Versteher mit Transparenten auf, die der NATO die Schuld am Konflikt gaben und sich beim Publikum für das Einstehen zu Netrebko bedankten. Das ist gelebte Freiheit der Meinungsäußerung, eine Demokratie sollte das aushalten. Ansonsten sind wir schnell in einer „woken“ Gesinnungsdiktatur angekommen, und das kann niemand ernsthaft wollen. Eigentlich ist es ganz einfach: Wer Netrebko nicht hören will, soll sich keine Eintrittskarte kaufen. Basta. Als Opernfreund und Gesangsfetischist hätte man aber einen eindringlichen Opernabend verpasst.
Natürlich waren alle gespannt, wie Netrebko mit dem auf ihr wohl lastenden Druck umgehen wird. In einem Wort: Atemberaubend. Der oben erwähnte erste stumme Auftritt im Vorspiel wirkte zugegebenermaßen angesichts der persönlichen Lage der Sängerin im Kontext des Krieges in der Ukraine etwas verstörend. Dafür kann sie jedoch nichts; dieser Auftritt war von Regisseur Harry Kupfer vorgegeben worden. Netrebko hatte die Rolle mit ihm erarbeitet und bereits in der Premierenserie 2018 interpretiert. Kupfer und Netrebko zeichneten ein differenziertes Seelenpanorama dieser Figur, die durch Shakespeares Dramenvorlage und Verdis Oper zu den Archetypen der machtgeilen Frau geworden ist, die zur Erreichung ihrer Ziele buchstäblich über Leichen geht und ihren Gatten gleich mitzieht. Allerdings kommt es in diesem die Abgründe der menschlichen Seele ausleuchtenden Nachtstück bald zur Umkehr der Entwicklungskurven: Die Lady wird – von Gewissensqualen heimgesucht und im Somnambulismus endend – schwächer, Macbeth hingegen wähnt sich nach seinem zweiten Besuch bei den Hexen unbesiegbar, legt alles Zaudern ab und steigert sich in radikalen Blutrausch. Exemplarisch die Szene beim Bankett: Netrebko singt das Brindisi mit funkelnder Leichtigkeit, man hört ihre Erfahrungen mit Donizettis dramatischem Belcanto deutlich. Macbeth hat Schreckensvisionen, will seine Schuld schon öffentlich gestehen. Die Lady hindert ihn daran. Macbeth singt mit aufsteigender Gesangslinie „La vita riprende“, sie antwortet mir fallender Linie „Vergogna, signor“, von Verdi mit schlichter Genialität komponiert, von Anna Netrebko kongenial interpretiert. Jubelnde Beifallsstürme gab’s nach jeder ihrer großen Szenen: Das „Vieni t‘ affretta“ mit der anschließenden Caballetta „Or tutti sorgete“ im ersten Akt von glühendem Begehren geprägt und mit dramatisch zugespitzter, raumfüllender Intensität gestaltet und umwerfenden, ohne Druck erreichten Spitzentönen gekrönt. Lodernde, glutvolle Phrasen erfüllen die von Verdi für die Pariser Neufassung komponierte Arie der Lady im zweiten Akt:“La luce langue“. Das Brindisi hatte ich bereits erwähnt, ihre bombensicher attackierten Triller darin jedoch noch nicht. Im vierten Akt ist die Figur der Lady am Ende ihres Weges angelangt, gleitet in sonnambulen Wahnsinn ab. Anna Netrebko ist aber bei weitem noch nicht am Ende: Sie offenbart ein gekonntes messa da voce, lässt die Töne herrlich an- und abschwellen, ab und an vielleicht eine Spur zu laut, jedoch alles mit fantastischer Sicherheit. Das Publikum ist nicht mehr zu halten und setzt – einmal mehr viel zu früh – mit dem Applaus ein. Die Connoisseurs zischen den Applaus vorerst erfolgreich nieder. Stark ist Netrebko nicht nur gesanglich, sondern auch darstellerisch, kitzelt das Abgründige, das Verruchte, das Durchtriebene, aber auch das Fragile aus der Rolle. Die Ensembles der Finali I und II bereichert sie mit umwerfenden, präsenten Spitzentönen.
Der Bariton Luca Salsi singt einen packenden Warlord, Königsmörder und König Macbeth. Mit seinem fantastisch ausbalancierten, klangintensiven Bariton lotet er den Charakter des erst zaudernden, dann immer stärker werdenden ambitiösen Usurpators einfühlsam aus. Seine Interpretation der Arie „Pietà, rispetto, amore“ löst zu Recht einen gewaltigen Beifallssturm aus, nicht nur wegen der sensationell lang gehaltenen Fermate auf „la regna tuo sarà“ am Ende der Arie. Die Duette der beiden – Salsi und Netrebko – sind von ungemeiner Spannung und Intensität geprägt, zwei Spitzeninterpreten quasi in ihren „signature roles“.
Ferruccio Furlanetto sang den Banquo bereits bei seinem Debüt an der Mailänder Scala 1979 (Claudio Abbado stand am Pult) – und singt die Rolle nun im Alter von 74 Jahren immer noch – und das ganz wunderbar, mit sicherer Höhe und fülliger Tiefe. Großen Applaus durfte er für die geschmeidige Interpretation seiner Arie „Come dal ciel precipita“ entgegennehmen. Genau wie Fabio Sartori als Macduff, der die Vertriebenen mit seinem „Ah, la paterna mano“ zum Widerstand gegen das Terrorregime Macbeths mit herrlichem tenoralem Schmelz aufruft und sie zusammen mit dem ebenfalls tenoralen Glanz verströmenden Malcolm von Friedrich Hamel in die Schlacht führt. Nach dem Sieg und dem Tod Macbeths streiten sich die beiden aber bereits um die königlichen Insignien.
Harry Kupfer hat in seiner zweitletzten Inszenierung vor seinem Tod im Jahr 2019 nochmals eindringlich gezeigt, welch grandioser und feinsinnig-intelligenter Geschichtenerzähler er war. Das ist alles textgetreu gemacht, etwas an unsere Gegenwart herangerückt, um die Allgemeingültigkeit der Handlung zu unterstreichen. Im Bühnenbild von Hans Schavernoch, das auf zwei Ebenen gebaut ist, die vertikal hoch- und niederfahren und so schnelle Szenenwechsel ermöglichen, entwickelt Kupfer das Geschehen mit nie nachlassender Spannung und genauer Personenführung. Die Hexen sind Leichenfledderer Weiber aus der Unterschicht, die sich einen Spaß draus machen, die ungeliebten Warlords Macbeth und Banquo zu veräppeln. Zur atmosphärischen Dichte der Inszenierung tragen die präzisen Videoprojektionen von Thomas Reimer entscheidend bei: Explosionen, Bombeneinschläge, gar ein drohender Meteorit schaffen eine zum Stück passende Stimmung des Grauens.
Diese Stimmungen evoziert auch die Staatskapelle Berlin unter der alle Facetten der Partitur hörbar machenden Leitung von Bertrand de Billy. De Billy schlägt fordernde Tempi an, vermag aber stets eine großartige Luzidität zu wahren, so dass man den Schrei der Eule hört, dass es unheimlich ächzt, klagt und brodelt im Orchester und das Blech Akzente des Schreckens effektvoll setzen kann. Die Einleitung zur großen Szene der Lady im vierten Akt ist von unglaublich einfühlsam ausmusizierter Transparenz des Klangs geprägt. Der Staatsopernchor (Einstudierung: Gerhard Polifka) erfüllt seine gewichtige Aufgabe mit Aplomb. Vor allem den Damen, welche die zügigen Tempi der Hexenszenen so bravourös meistern, gehört ein Kranz gewunden. Den spöttisch-jubelnden Schlusschor dürfen sie allerdings nicht singen, denn die Aufführung endet wie die Urfassung Verdis von 1847 mit Macbeth fatalistischer Selbsterkenntnis „Mal per me“, welche Luca Salsi mit grandioser Gestaltungskraft singt. Standing ovation, langanhaltend und ein Opernabend der lange nachhallt, weil einfach alles stimmte.
Kaspar Sannemann, 19. September 2023
Macbeth
Giuseppe Verdi
Berlin Staatsoper