Die Vorlage zu dieser vieraktigen Oper nach einem Libretto von Eugène Scribe lieferte das fünfaktige Drama Polyeucte martyr von Pierre Corneille (1606-84), welches 1643 uraufgeführt wurde. Diesem liegt die Heiligenlegende Polyeuctus von Melitene zu Grunde, die durch den byzantinischen Hagiografen Symeon Metaphrastes († vor 1025) überliefert wurde. Der sowohl in der orthodoxen als auch in der katholischen Kirche als Heiliger verehrte Polyeuktos war ein römischer Soldat griechischer Herkunft, der 259 während der Christenverfolgung unter Kaiser Decius in der armenischen Stadt Melitene (heute Malatya) den Märtyrertod starb. Den Grund hierfür überliefert uns das Martyrologium Romanum, das Verzeichnis aller Heiligen und Seligen der römisch-katholischen Kirche, wonach Polyeuktos die römischen Götterbilder zerschlug, anstatt den vorgeschriebenen Opferkult zu leisten und dafür gefoltert und enthauptet wurde, wodurch der noch nicht getaufte die Bluttaufe anstatt der sakralen Taufe empfing.
Auf dieser Grundlage komponierte Donizetti nun 1838 seine Oper Poliuto bzw Les Martyrs 1840 und Charles Gounod 1878 seine Oper Polyeucte. Dank der mit dem religiösen Geschehen verwobenen Liebesgeschichte wurde Corneilles Tragödie ein großer Erfolg beim Publikum beschieden. Nicht so beim französischen Klerus, der die Profanierung eines religiösen Stoffes durch die Darstellung auf der Bühne tadelte. Donizetti stand nun für Les Martyrs in Paris ein ungleich größeres Orchester zur Verfügung, was sich in der drastischen Erweiterung der orchestralen Klangfarben der Partitur ausdrückte. Zu Beginn ertönt etwa ein einminütiges Fagott Quintett und natürlich kommt eine heutige Inszenierung nicht ohne Erinnerung an den Genozid am armenischen Volk durch das Osmanische Reich 1915/16 aus. Die Türkei als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches würde den Genozid heute wohl anerkennen, stünde dem nicht die Reparationsforderungen Armeniens entgegen! Und, das sei nur an dieser Stelle bemerkt, auch die USA als Natoverbündete der Türkei erkennen den Genozid am armenischen Volk bis heute nicht an (soweit mir bei meiner Armenienreise im Mai 2023 gesagt wurde)! Von daher erachte ich die Verbindung der Märtyrerlegende um Polyeucte mit dem Genozid am armenischen Volk durch den polnischen Regisseur Cezary Tomaszewski für durchaus legitim. Die grand opéra, die aus der opéra lyrique hervorgegangen war, verbindet sich in Les martyrs mit dem italienischen Belcanto. Paulina steht zwischen zwei Religionen, aber auch zwischen ihrem Ehemann Polyeucte und ihrem früheren, verschollen geglaubten Geliebten Sévère. Sie ist die Tochter des tyrannischen Gouverneurs Félix.
Die römischen Besatzer werden in dieser Oper dekadent, trashig und queer in Kostümen in den Farben pink bis orange und rot vorgeführt. Die christlichen Märtyrer eher in schlichten fleischfarbenen Kostümen. Manchen Besuchenden ging das, in ihrem Schamgefühl offensichtlich verletzt, viel zu weit und sie konnten nicht umhin, ihrem Missfallen lautstark durch ungerechtfertigte Buhrufe Ausdruck zu verleihen. Noch während der Ouvertüre erscheint das Bild einer Frau mit dem Text: Ich bin Aurora, ich bin Armenien. Aurora Mardiganian (1901-94) war die Hauptfigur und Zeugin für das Abschlachten des armenischen Volkes durch das Osmanische Reich in dem verlorengegangenen Stummfilm „Auction of Souls“ 1919, basierend auf ihrem Buch „Ravished Armenia; the Story of Aurora Mardiganian, the Christian Girl, Who Survived the Great Massacres“ von 1918. Ihre Reinkarnation erfährt sie in dieser Produktion in Pauline. Die Bühne der Ausstatterin Aleksandra Wasilkowska stellt eine halbrunde Zirkusarena dar, die mit einem nach außen hin rotem Vorhang, der geöffnet innen beigefarben ist, die beiden Welten der römischen Besatzer und der unterdrückten Armenier darstellen soll. Der Vorhang wird während der Aufführung öfters zur Seite gezogen und ermöglicht einen Blick in das Innere. Während sechs Tänzer ihr Können in lasziven orgiastischen Bewegungen demonstrieren, wird vom Bühnenboden ein weißes Fantasiegebilde mit mehreren Augen und Mäulern heruntergelassen, das wohl an die Hure Babylon aus der Offenbarung des Johannes (Kap. 17 und 18) erinnern soll. Neben den genannten zwei Ebenen, Christenverfolgung im 3. Jhd. und Genozid an den Armeniern 1915, verlegt Regisseurs Cezary Tomaszewski die armenisch-christlichen Märtyrer noch in eine Science-Fiction Zukunft des Jahres 3389, wo die Menschheit den Belcanto als allgemeine Weltsprache angenommen hat und wo den Stoffpuppen weiße T-Shirts mit aufgedruckten armenischen Frauennamen übergelegt werden, um die drei Ebenen zusammenzuführen. Soweit die szenische Präsentation. Die Sizilianerin Roberta Mantegna, mit blutverschmiertem Gesicht, verfügt als Pauline über einen strahlenden höhensicheren Sopran voller zarter Gefühlsregungen, womit sie auch die wenigen Koloraturen bravourös meisterte. John Osborn als ihr christlicher Gatte Polyeucte schaffte sogar das hohe E fehlerfrei, wofür er zurecht Szenenapplaus erhielt. Mattia Olivier als römischer Feldherr Sévère gefiel mit erdigem Bariton. Seine rote Glitzermaske und sein letzter Auftritt in weißem Kleidchen samt weißer Strumpfhose erinnern an einen Ordner beim Lifeball und sollen wohl die Dekadenz der Römer aufzeigen. David Steffens unterlegte seinen etwas zurückhaltenden Bass dem Vater von Pauline, Felix. Nicolò Donini konnte im zweiten Akt als römischer Priester Callisthènes aufgebracht verkünden, dass man in den Katakomben einer christlichen Taufe auf die Schliche gekommen war. Der kongolesische Tenor Patrick Kabongo gestaltete Polyeuctes christlichen Freund Néarque aufopferungsbereit und mit viel Herzenswärme. In kleinen Rollen waren noch der libanesische Tenor Carl Kachouh als Un Chretien (ein Christ) und die US-amerikanische Sopranistin Kaitrin Cunningham als Une Femme (eine Frau), beide Mitglieder des Arnold Schoenberg Chores, zu erleben. Der Arnold Schoenberg Chor (Leitung: Erwin Ortner) gefiel es sichtlich auch einmal darstellerisch „die Sau rauszulassen“, wozu er in dieser Inszenierung viel Gelegenheit erhielt. Jérémie Rhorer lieferte am Pult des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien bis zur Pause einen aus dem Graben eher verhalten strömenden Orchesterklang. Nach der Pause steigerte er sich zu schwungvollen und packenden Ballett- und Massenszenen. Erwähnt sollen noch die durchtrainierten und körperlich wohlgeformten Tänzer werden, die viel zum Erfolg der zweiten Aufführung beitrugen: Blaž Cunk, Marcin Dankiewicz, Johann Ebert, Roland Geczy, Joni Österlund und Anderson Pinheiro da Silva in der trashigen Choreografie der Polin Barbara Olech. Krzysztof Kaczmarek und Jedrzej Jęcikowski ergänzten mit ihren Videoeinblendungen und sensibler Beleuchtung die Aufführung. Am Ende des knapp dreistündigen Abends war man um eine Rarität reicher, wiewohl ich sowohl Poliuto als auch Gounods Polyeucte bereits kannte. Das Publikum beklatschte alle Mitwirkenden begeistert, mit zahlreichen Bravorufen für Osborne und Mantegna. Aber auch der Dirigent und Chor hatten viel zum großen Erfolg dieses Abends beigetragen und wurden vom Publikum mit langanhaltendem, etwa 12 minütigem Applaus, bedankt.
Harald Lacina, 22. September 2023
Les Martyrs
Gaetano Donizetti
Theater an der Wien
2. Vorstellung am 20. September 2023
Regisseur: Cezary Tomaszewski
Dirigat: Jérémie Rhorer
ORF Radio-Symphonieorchester