Sie war zweimal verheiratet, viermal verlobt und hatte unzählige Sexualpartner unterschiedlicher Prägung. Das sollte im Zeitalter des „One-Night-Stands“ keine Besonderheit mehr sein. Aber Ethel Margaret Campbell (1912-1993) war eine Angehörige der britischen Oberklasse und praktizierte einen der Zeit vorauseilenden Lebensstil. Damit erreichte ihre Persönlichkeit im Königsreich schon ein gewisses öffentliches Interesse. Eine Hirnverletzung in der Folge eines Unfalls, der Sturz in einen Fahrstuhlschacht, hatte zum Verlust des Geruchs- und Geschmackssinnes der Dame geführt, sowie offenbar auch ihre Persönlichkeitsstruktur stark verändert. Vor allem habe der Unfall ihre Promiskuität extrem befördert, was ihrem Leben eine besondere Pikanterie verlieh.
In einem Scheidungsprozess legte 1963 ihr „Noch-Ehemann“ angebliche Beweise über 88 außereheliche erotische Begegnungen mit Personen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und durchaus „queerer“ sexueller Orientierung vor. Um diesen Prozess herum baute der englische Autor und Journalist Philip Hensher Szenen der letzten Zuflucht einer kaum verfremdeten „Herzogin von Argyll“. In einer Suite ihres inzwischen verkauften Hotels, verwoben mit Rückblenden auf ihr früheres Leben: ihr Debut in Londons High Society, ihre Hochzeit mit einem Herzog, die Scheidung. Dazu: recht drastische Szenen in der Suite, ein letztes Interview und, wegen der fehlenden Zahlungsfähigkeit, der Rausschmiss aus dem Hotel.
Das Libretto ist geschickt gebaut, vereint Schillerndes mit Schrägem, Exzentrisches mit Laszivität, liebäugelt mit der Groteske, lässt es aber an Tiefe fehlen.
Für den damals 24-jährigen Komponisten Thomas Adès war die Vertonung des Librettos der Durchbruch zum inzwischen bedeutendsten britischen Opernschöpfer nach Henry Purcell und Benjamin Britten in der ansonsten nicht reichhaltigen Spezies der dortigen Opernliteratur.
Die Musik fällt durch ihre respektlosen und rhythmisch komplexen Klangmittel sowie mit ihrer phantasievollen, hochvirtuosen Stimmführung auf. Trotz der überschaubaren Instrumentierung ist sie von großer, expressiver Kraft. Die Musik Adès ist niemals atonal, man traf immer wieder sehr feinsinnige Anspielungen an Piazzola, Strauss, Berg und Schostakowitsch, findet aber auch seine eigene Tonsprache. So nutzte sie auch Klangfarben von nicht originär der orchestralen Klangerzeugung dienenden Gegenständen. Den Zeitebenen und den Rollen ließ sich die Musik nicht zuordnen, da die Darsteller auch unterschiedliche Rollen in unterschiedlichen Phasen der Abläufe verkörperten.
Als musikalischer Leiter des Abends sorgte der britisch-deutsche Dirigent Tim Anderson mit einem Projektorchester, dessen ungewöhnliche Besetzung nur einfache Streicher und Blechbläser aufwies, dafür über mehrere Klarinetten, Saxophone, Keyboard, Harfe, Akkordeon sowie über viel Schlagwerk verfügte. Er brach dabei mit liebgewordenen Hörgewohnheiten, indem er differenziert, mal verminderte und mal verstärkte Akkorde dirigierte. Es war Musik in beziehungsreicher Beziehungslosigkeit, passend zu den gesellschaftlichen Zuständen. Mag sein, dass sich der darin Ungeübte erst einhören musste. Aber man gewöhnte sich rasch, vermag sich an diesem aus so vielen Elementen komplex zusammengewobenen Klangteppich erfreuen und am Ende stimmte dann alles.
Der aus Österreich stammende Georg Schmiedleitner war mit den gleichen Partnern nach Dresden gekommen, mit denen er die von den Salzburger Osterfestspielen übernommene Einstudierung der Kammeroper „Satyricon“ von Bruno Madernas (1920-1973) im Jahre 2018 in der Semperoper einrichtete. Mit diesen Szenen aus dem Roman des Petronius (14-66 n.Chr.) hatte die Künstlergruppe die Collage eines Sinnbildes von Dekadenz und Verderbtheit geschaffen und sich damit für eine Inszenierung der Dresdner Erstaufführung der Oper „Powder Her Face“ empfohlen.
Der Bühnenbildner Harald Thor ordnete im hinteren Teil der breiten Studio-Spielfläche von Semper Zwei das Orchester hinter einer schwarzen Gaze-Abgrenzung mit ausreichend Doppeltüren an. Auf einem die gesamte Breite des Terrains einnehmenden Laufsteg war das Interieur einer Hotelsuite einschließlich des Schminktischs, eines Kleiderschranks und der Badezimmerutensilien im Stil der 1950-er Jahre verteilt. Über der Gazeabtrennung verlief eine ausgedehnte Videowand. Auch die von Tanja Hofmann gestalteten Kostüme orientierten sich an den Zeiten der jeweils gespielten Szenen, was den komplizierten Korsagen einen besonderen Reiz verschaffte. Hofmanns Probleme dürften vor allem in der Handhabbarkeit der Kostüme gelegen haben, denn rasche Rollenwechsel und Kleidungstausch auf der offenen Szene wollten trainiert sein. Lediglich in der Gerichtsszene traten Richter, Gerichtsreporterin und der Gaffer als symbolisierende Wölfe in Tierkostümen an.
Die Inszenierung erzählt die tragische Geschichte einer Frau, die in einer Zeit, die von der Gleichberechtigung der Geschlechter meilenweit entfernt war, selbstbestimmt ihre Bedürfnisse auslebte. Ohne die ironischen Momente des Librettos und der Partitur zu ignorieren, wurde der Spaß nicht übertrieben ausgebaut. Für die, um den von der Protagonistin stoisch ertragenen Prozess angeordneten Szenen, nutzte die Regie durchaus auch voyeuristische Momente, obwohl sich die Inszenierung gegen die verheerende Wirkung von Doppelmoral, Voyeurismus und Dekadenz in der Gesellschaft richtete. Mit handwerklicher Meisterschaft war ein flotter Ablauf gesichert und die Nähe zum Publikum durchaus genutzt. Alles, worum es hier oberhalb und unterhalb der Gürtellinie ging, war in durchaus angemessener Realisierung mit didaktischer Deutlichkeit demonstriert.
Die Videosequenzen von Jubal Battisti halfen beim Verständnis des Geschehens und unterstützen den Fortgang der Handlung, wenn bereits lange vor Schluss die Duchesse mit ihrem Koffer durch die Hotelgänge regelrecht schlich. Nicht zu vergessen seien die von Marco Dietzel gestalteten Lichteffekte.
Das perfekt zusammengestellte Sängerensemble sang und spielte mit vollem Körpereinsatz und mit einer Intensität, dass einem der Atem stockte.
Die englische Sopranistin Mary Plazas wechselte mit ihrer Duchesse zwischen der moralfreien kühl berechnenden Feme fatale, der unnahbaren Hohepriesterin der Schönheit, ihrer sexuellen Freizügigkeit und ihrer Einsamkeit auf berückende Weise in den unterschiedlichen Facetten dieser Frau. Mit ihrer warmen verführerischen Stimmfarbe, glanzvollen Höhe und ihrem Spiel weckte sie, selbst in den sexualisierten Passagen, Mitgefühl für die einsame, verbitterte und verzweifelte Frau. Der musikalisch vertrackten Partie blieb sie nicht eine Note schuldig, wenn sie in den vielfachen Altersstufen spielerisch und stimmlich begeisterte. Immerhin musste sie im Verlauf des Abends einen Bogen von fast 60 Lebensjahren der Protagonistin überspannen. Eine bis zur Selbstaufgabe liebeswütige Egozentrikerin, deren strahlendes Leben unaufhaltsam in den tragischen Abgrund führen musste, so dass ihr Schmiedleitner eine klassische Opern-Sterbeszene gönnte.
Die walisische Sopranistin Rhian Lois begeisterte in den vielfältigen Rollen nicht nur mit großer spielerischer Wandlungsfähigkeit und emotionale Breite, sondern auch mit ihrem in jeder Lage brillanten, strahlenden Gesang. Die nahezu akrobatischen stimmlichen Anforderungen bewältigte ihr Sopran mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit, wenn sie als Geliebte des Herzogs und als Klatschreporterin ihre glitzernden Koloraturen perlen ließ.
Peter Tandris, der als Mr. Smith in Luciano Chaillys „Die kahle Sängerin“ bereits sein Debüt an der Semperoper hatte, spielte seine Rollen mit lässiger Provokation und Verachtung. Schauspielerisch großartig, glänzte er stimmsicher mit weichem angenehmen Tenor in der Darstellung des Elektrikers, des Salonlöwen, des schamlosen Trinkgeldempfängers, eines Gaffers und eines Lieferjungen.
Auch der amerikanische Bassist Andrew Nolen war bereits in der vergangenen Saison in Reimanns Gespenstersonate Gast in Semper Zwei gewesen. Für die Postulierung der moralischen Verkommenheit seiner Figuren sorgte ein besonderer Effekt des Komponisten. Vor der Pause mimt er den sexsüchtigen angetrunkenen Duke und gleich danach den bigotten Richter. Die Bassrolle forderte seine klangvolle Stimme in allen Bereichen mit den großen Registersprüngen. Den halsbrecherischen Aufstieg ins Falsett meisterte er mit Eleganz.
Die Leistungen der vier Sängerdarsteller und des Inszenierungsteams wurden mit lang anhaltenden Beifallsbekundungen entlohnt. Der begeisterte Schlussapplaus des Premierenpublikums galt sicher nicht zuletzt auch dem souveränen Tim Anderson und seinem engagierten Projektorchester.
Thomas Thielemann, 21. Oktober 2023
Powder her Face
Thomas Adès
Semperoper Dresden
Studiobühne Semper Zwei
Besuchte Premiere am 20. Oktober 2023
Inszenierung: Georg Schmiedleitner
Video: Jubal Battisti
Musikalische Leitung: Tim Anderson
Projektorchester