Ein Kopfjäger ist dieser Herodes oder besser: ein neureicher Sammler von Trophäen, der sich kunstsinnig gibt. Seine Bel-Etage-Wohnung im schicken Gründerzeitviertel einer europäischen Stadt schmücken Vitrinen mit Köpfen aus unterschiedlichen Epochen und Stilrichtungen. Da gibt es einen Buddha-Kopf, Beispiele aus der griechisch-römischen Antike, eine Miniatur der Monumentalköpfe von den Osterinseln und jede Menge moderne Objekte aus verschiedenen Materialien und Formen. Hat wahrscheinlich viel Geld gekostet, aber davon hat der Mann offenbar genug.
Mit einem ganz besonderen Kopf im übertragenen Sinne schmückt seine Geburtstagstafel der unseriöse Chef einer dringend therapiewürdigen Familie; Strauss selbst sprach von „perversen Leuten“. Ein bekannter Intellektueller muß es sein, die aktuell angesagte moralische Stimme, und dieser religiöse Schlauberger darf am Ehrenplatz sitzen, am gegenüberliegenden Ende des Platzes des Familienoberhaupts. Ebendies hat den literaturbesessenen Propheten eingeladen, um sich von seinem schlechten Gewissen loszukaufen. Denn dessen Anklage gegen die zerrütteten, amoralischen Verhältnisse im Herrscherclan spart anstrengende Sitzungen beim Psychologen, die womöglich noch ganz andere häßliche Abgründe offenbaren, und so macht Herodes die Kritik an seinem Lebenswandel zur Show am Geburtstagstisch. „Seht her, liebe Gäste“, scheint er fröhlich und zugleich bußfertig auszurufen, „ich leiste mir den Tadel; ist ja nicht alles einwandfrei gelaufen. Und jetzt: Champagner!“
Das hat ein bißchen was von dem Bohemien, den Gerhard Polt in einer Münchner Neubausiedlung seinen Beaujolais trinken läßt, um die seelenlose Beton-Tristesse aufzuhübschen und sich vom Vorwurf der Menschenfeindlichkeit freizukaufen.
Der familientherapeutische Ansatz von Dmitri Tcherniakov ist eine ausgesprochen reizvolle Neuinterpretation des bekannten Stoffes; sein aktueller „Holländer“ in Bayreuth ist eine grandiose, psychoanalytisch geprägte völlig neue Erzählung der Geschichte. Kenner dieser herausragenden Produktion, die sich jetzt auf seine „Salome“ in Hamburg gefreut haben, läßt er allerdings deutungstechnisch immer wieder im Regen stehen; vor allem aber entwirft er eine streckenweise semantisch unzugängliche Inkongruenz von Libretto, Partitur und Bühnengeschehen. Vor allem aber führt er mögliche Ideen nicht aus, falls es nicht sein erklärtes Ziel ist, manche Aspekte als bloße Projektionen oder gar Visionen zu deuten. Dazu später mehr.
Musikalisch ist diese „Salome“ fast durchweg großartig bis einmalig. Asmik Grigorian singt und spielt die Titelrolle mit umwerfendem Einsatz ohne jede Selbstschonung. Stark und durchdringend gestaltet sie die Forte-Passagen, drohend-girrend ihre Forderung nach dem Haupt des Täufers. Da ist ihre sonst so farbenreiche Stimme schwarz, ganz gemäß dem Libretto – leitmotivisch zieht sich diese Farbe (oder ist es das ultimativ gesättigte Licht?) durch ihren Text. Gerade in den Vokalen zeigt sich ihre Präsenz, die mit ihrem expressiven Spiel eine solch bedrückende Einheit bildet, daß man Angst hat, sie würde tatsächlich irrsinnig werden. Einmal wirft sie Jochanaan, der sie einfach ignoriert, einen Stuhl nach – sie schmeißt ihn in einen Raum, der ebenso leer ist wie das emotionale Familienleben. Solche Momente schaffen eine beklemmende Nähe zwischen Bühnengeschehen und Zuschauern.
Kyle Ketelsens Jochanaan gefällt sich in Selbstgerechtigkeit und Unfähigkeit zu jedweder menschlichen Nähe mit seinen Büchern, dem arrogant-aufgesetzten Zigarrenpaffen und dem Nichtsehen einer wirklich suchenden Seele. Das kann ja dann der Messias erledigen. Da er meist mit dem Rücken zum Publikum sitzt (er zeigt wirklich jedem die kalte Schulter), wirkt sein Gesang manchmal etwas dumpf; die Drohung in seiner Anklage erreicht die Ohren derer, die ihn hören sollen, nicht immer in der erforderlichen Deutlichkeit. Seine Halbglatze führt zu Lachern im Publikum, als Salome sein schwarzes Haar im Ton des Hohen Liedes preist.
Salomes Stiefvater Herodes wirkt durch den bunten Blumenanzug clownesk; John Daszak verleiht dem angeschlagenen König genau den richtigen halbseidenen Charakter eines Patriarchen, der seine Finger nicht bei sich lassen kann. Spiel und Diktion sind überzeugend, aber dem Ende zu geraten seine Höhen manchmal unsicher. Das macht aber nichts, weil es zur Rolle und ihrer Entwicklung paßt. Violeta Urmana gestaltet die Herodias angemessen als biestige Matrone, der man alles, nur nichts Gutes zutraut. Mit Schärfe singt sie die Partie, könnte manchmal aber etwas durchdringender sein.
Einwandfrei in der Wiedergabe der Konsonanten und damit einer klaren Textverständlichkeit ist eigentlich nur Oleksiy Palchykov als Narraboth, der den unglücklich Verliebten glaubhaft verkörpert. Er gehört, wie der Page, den Jana Kurucová gibt, zu den wenigen Sympathieträgern, weil nicht zur perversen Oberschicht gehörig; aber die beiden haben keine Chance. Sein Suizid fällt hier aus, weil Herodes sich zwar über das vergossene Blut mokiert, aber der Hauptmann verläßt einfach die Szene. Daß er sein Leben beendet, ist im Stück nicht nur bedeutend, das hätte man hier einfach mehr oder weniger diskret und zum Gesamtentwurf passend umsetzen können.
Ausgezeichnet gelingt das schwer umsetzbare Judenquintett, denn James Kryshak, Florian Panzieri, Daniel Kluge, Andrew Dickinson und Hubert Kowalcyk disputieren mit religiösem Eifer gleichzeitig hysterisch wie authentisch und verschleifen dabei keine Silbe. Warum Kostümbildnerin Elena Zaytseva den 5. Juden (Kowalcyk) in einen langen Rock und Stöckelschuhe gesteckt hat, mag man nur raten.
In dieser Szene gewährt Kent Nagano mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg den Sängern genügend dynamischen Raum, während er an anderen Stellen das Fortissimo kraftvoll ausspielt. Das unterstreicht zwar die Emotionalität, aber da haben Solistinnen und Solisten mitunter Mühe, mitzuhalten. Man mag ihm vorwerfen, die fließende Führung der Strauss´schen Musik einem Hang zur Exaktheit unterzuordnen, die deutlichen Buh-Rufe beim Schlußapplaus rechtfertigt das aber keineswegs.
Die hätte man eher bei Erscheinen des Regieteams erwartet, denn den Abweichungen von der Handlung im Stück setzt Tcherniakov keine Ersatzdeutung entgegen. Am frappierendsten ist das beim zentralen Tanz Salomes. Bei den ersten ekstatisch wirbelnden Takten legt sie wilde, moderne Tanzgesten hin, die einiges erwarten lassen. Ganz großartig ist die weitere Entwicklung, denn sie schminkt sich das Gesicht zuvor mit unschuldigem Weiß, also derselben Farbe, die sie dem Leib Jochanaans attestiert. Wie ein Kind, das Angst vor dem erneuten Mißbrauch hat, verkriecht sie sich in eines der Vitrinenfächer. Der übergriffige Stiefvater hebt sie vorgeblich liebevoll heraus und überreicht ihr ein Pakt mit einem türkisgrünen Kleid, das er ihr anzieht und so aus ihr die Phantasie eines Kinderschänders macht. Auf dem musikalischen Höhepunkt des Tanzes steht er vor der nun Regungslosen und es passiert – nichts!
Vielleicht vertraut der Regisseur hier auf die Phantasie des Publikums, aber die Verweigerung jeglicher Handlung hinterläßt hier nur ein Vakuum. Eine diskrete, aber wirkungsvolle Möglichkeit wäre gewesen, einfach für ein paar Sekunden das Licht verlöschen zu lassen und dann wieder anzuschalten, damit klar ist: Hier passiert jetzt etwas, das nicht sein darf.
Ebenfalls eine vergebene Möglichkeit ist die Finalszene, als Salome mit Jochanaan – ja, dem quicklebendigen Mann, nicht seinem abgeschlagenen Haupt – alleine ist. Sie hätte ein Messer von der Tafel nehmen und ihn erstechen können, oder irgend etwas, was zum Tod des Täufers führt, aber der latscht einfach von der Bühne. Mit seinem Kopf auf den Schultern, vollkommen abweichend vom Text des Schlußgesangs.
Auf Herodes´ „Man töte dieses Weib!“ fällt sie, die bis dahin ganz allein, ohne Silberschüssel und ohne Täuferhaupt, im Raum steht, um wie die Hysterikerin aus einem Roman des 19. Jahrhunderts. Wäre es hier nicht sinnvoll gewesen, ihr die Chance zu geben, ihr Leben selbst zu beenden, bevor der fiese Stiefvater sein endgültiges zerstörerisches Werk an ihr vollbringt? Schließlich drohte sie bereits, sich mit einem abgeschlagenen Glas umzubringen, sollte ihr Wunsch nach dem Kopf des Jochanaan nicht erfüllt werden. Oder ist sie nur in Ohnmacht gefallen? Mag es sein, daß das alles nur die Vision oder das Traumgebilde eines durch Mißbrauch traumatisierten Mädchens ist und sich deswegen von der Vorgabe löst? Solche offenen Fragen kann man sich als Regisseur nur begrenzt leisten, wenn man sich nicht dem Vorwurf einer gewissen Konzeptarmut bzw. der mangelhaften Umsetzung einer eigentlich sehr guten Grundidee aussetzen will.
Das Ganze wirkt wie ein gut gemachtes Familiendrama mit großartigem Bühnenbild und gelungener Aktualisierung, vergleichbar dem Film „Das Fest“ von Thomas Vinterberg aus dem Jahr 1998, nur daß es hier eine vorgeblendete Handlungsebene gibt, die bis auf wenige Ausnahmen mit Libretto und Partitur wenig gemein hat.
Der schnell aufbrandende Beifall gilt vor allem der Hauptdarstellerin, ihr gehört eigentlich der Abend. Dafür und für die solistischen Höhepunkte sowie die orchestrale Begleitung gibt es dann auch verdiente stehende Ovationen.
Andreas Ströbl, 30. Oktober 2023
Salome
Richard Strauss
Staatsoper Hamburg
Premiere am 29. Oktober 2023
Inszenierung: Dmitri Tcherniakov
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Nächste Vorstellungen: 29. Oktober, 1. und 4. November