Wuppertal, Konzert: „Mahler 2.“, Patrick Hahn

Vor Beginn erläuterten Ulrike Nahmacher, Dr. Rainer Mönig und GMD Patrick Hahn von der Bühne aus, warum im Foyer der Historischen Stadthalle Wuppertal Hotels für Schmetterlinge (Symbole der Auferstehung) gegen eine Spende an den naturwissenschaftlichen Verein Wuppertal angeboten wurden. Das Sinfonieorchester Wuppertal als Orchester des Wandels unterstützt die Aufforstung für den Instrumentenbau notwendiger Edelhölzer und Gustav Mahler gilt als Sänger der Natur. Kultur und Natur müssen zusammenrücken.

(c) Johannes Vesper

Die 2. Mahlers ist mit riesigem Orchesterapparat (zehn Hörner, acht Trompeten!), Fernorchester, Chor, 2 Solistinnen, die gewaltigste Sinfonie nach Beethovens Neunter. Und sie ist eine teure. Das Manuskript wurde bei Sotheby’s vor acht Jahren für 5,3 Millionen Euro versteigert. Dazu ist sie hier eine selten aufgeführte Sinfonie (zuletzt 2006 unter Kamioka). Jetzt haben sich der Konzertchor Wuppertal, verstärkt durch die Kartäuser Kantorei Köln, das Sinfonieorchester Wuppertal sowie Julie Adams (Sopran) und Karen Cargill (Mezzosopran) auf der erweiterten Bühne der Historischen Stadthalle versammelt, um unter der Leitung von Patrick Hahn mit Mahler die wichtigen Fragen des Lebens beantworten: „Warum hast Du gelebt…? Oder Ist das alles nur ein wüster Traum, hat dieses Leben und dieser Tod einen Sinn“. Sechs Jahre hat Gustav Mahler daran gearbeitet.

Nach langer Konzentration in absoluter Stille der ausverkauften Halle begann die „Totenfeier“ des 1. Satzes mit erschreckend rauem ff-Sforzato aller Streicher und anschließendem leisen Tremolo, aus dem unvermutet mit ungeheurer Energie die Bässe bedrohlich in die Höhe fauchen! Die tiefen Streicher suchen sich unisono ihren Weg, bevor die Hörner das 1. Thema anstimmen. Immer wieder erklingt die hohle, aufsteigende Quarte. Endlich erhebt sich die Flöte über der Harfe wie ein Waldvögelein. Aber dann wird man „mit Keulen zu Boden geschlagen“. Aus stillem PPP nach einem gewaltigen Orchesterschlag entwickelt sich nur langsam wieder Leben. Taktwechsel, spannende Agogik, schwierige Kapellmeistermusik: alles hatte Patrick Hahn bei dieser Programmmusik der Psyche angesichts des Todes inspirierend wie souverän im Griff. Die Trauermusik endete plötzlich mit einer abstürzenden unisono Molltonleiter des gesamten Orchesters. Mindestens fünf Minuten Pause hatte Mahler danach vorgeschrieben. Es wurden immerhin drei.

Im 2. Andante moderato schlugen mit fröhlichem Ländler über klangvollen Pizzicati der Bässe die Streicher heiterere Seiten des Lebens an. Heikel schien der fast kammermusikalische Übergang zu schnelleren Passagen. Die silberne Flöte verbreitete kurzen Glanz und nach Generalpause nahm zögerlich wie spannungsgeladen der musikalische Fluss mit herrlicher Cellokantilene und seufzenden Ritardandi erneut Fahrt zum reinen Glück auf. Der Ländler, noch kein Wiener Walzer, weist zurück auf den romantischen Franz Schubert. Ein letztes Mal begann das Thema aus dem Nichts, jetzt mit delikatem Pizzi aller Streicher und hingetupftem Stakkato der Holzbläser.

Der 3. Satz, des Antonius von Padua musikalische Fischpredigt, beginnt mit einem unter die Haut fahrenden „Doppelwumms“ der Pauke in fff. Hier trifft der Ausdruck! Die tiefen rhythmisierten Holzbläser, aufsteigend im Fugato bei steigendem Tempo lassen in bewegtem Dreier akustisch Wasser fließen, bis das Blech mit reinen Quarten wie das Martinshorn der Feuerwehr für weitere Aufregung sorgt. Mit „Fisches Nachtgesang“ hat der Satz nichts zu tun. Der heilige Antonius, dem dieser Satz gewidmet ist, predigt orchestral dynamisch in reichen Klangfarben. Ein Lied aus der volkstümlichen Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ liegt dem Satz zugrunde. Nach zersplitterndem Ausbruch endete die Predigt, und ohne Übergang sang Karen Cargill mit kräftigem Tremolo aus dem Orchester heraus, – sie steht hinten links vor den Harfen – von der Pein des Menschen in höchster Not, die sich auf „Röslein rot“ reimt, suchte zusammen mit der Sologeige Gott und das „ewig selig Leben“.

(c) Johannes Vesper

Der kurze Satz leitete ohne Pause über zur Auferstehung im 5. Satz: „Sterben werd ich um zu leben!“. „Auferstehen wirst Du, ja Auferstehen“ singen Solosopran und Chor. Ein frommer und berechtigter Wunsch, denn zunächst muß die emotionale Fülle der Musik, der Einfälle, die Dynamik der Ausbrüche überstanden werden. Das dies irae zitiert den Beginn des 1. Satzes, steigert ihn gewaltig erneut mit starken Blechquarten. Dann beruhigen ruhige Hornfanfaren und die Oboe. Das Thema über Pizzi wandert durch verschiedene Orchestergruppen bis zum ergreifenden, makellos gespielten choralartige Blechbläsersatz. Hier schien vor einem zusammenstürzenden Ausbruch die Entwicklung stehen zu bleiben, obwohl der Dirigentenstab über den Streichern bebte. Die reichhaltige musikalische Thematik bietet sinfonisches Theater bzw. ein Erlebnis der Sonderklasse für Musiker wie das Publikum. Und wenn nach der Uraufführung 1895 von „hohlem Nichts, von brutaler Geschmacklosigkeit, von Lärm, Skandal, Unfug und Umsturz“ geschrieben worden ist, entsprach das vielleicht vor allem dem damals in Wien durchaus verbreiteten Antisemitismus Karl Luegers. Gustav Mahler ging es in diesem seinem „Requiem“ doch um die großen, existentiellen Sinn- und Glaubensfragen, auch wenn seine Musik mit österlicher Auferstehungsmusik eines Johann Sebastian Bach nichts zu tun hat. Thomas Mann gestand Gustav Mahler (allerdings später!) den „ernstesten und heiligsten künstlerischen Willen unserer Zeit“ zu. Wie dem auch sei, in Mahlers längstem Sinfoniesatz überhaupt öffneten sich bei fernem wie leisem Blech aus dem Foyer die Gräber, während die hohe Flöte im Orchester zitterte. Die Hörner aus der Ferne, später die Trompeten in den Ecken des Raumes von hinten: solche quasi analog-historische Dolby-Surround-Technik scheint den Kubismus in der Malerei ca. 15 Jahre später vorwegzunehmen, wobei der Begriff für die Musik eigentlich keine Rolle spielt. Lange Pauken-Schlagzeug-Crescendi markieren den Ernst der Lage. Endlich setzte leise, fast a capella der trostspendende Chor ein. Hier dirigierte Patrick Hahn ohne Dirigentenstab. Wie das Gedicht des empfindsamen Friedrich Gottlieb Klopstock aus dem 18. Jahrhundert wohl ausgefallen wäre nach den Greueln und Katastrophen des 20. Jahrhunderts? Jedenfalls vermitteln die sich großartig ergänzenden Solistinnen, die verhaltenen Chöre, Zuversicht und Trost, oder? Dann steht der Chor auf, die Fernbläser schleichen sich hinten im Orchester wieder auf ihre Plätze und am Ende rissen zu vollem Chor – die Solistinnen geben zusätzlichen Glanz- zu elementarer Orgel, die wie die Orchesterglocken in der orchestralen Apotheose untergingen die Himmel auf. Nach dem Schlussakkord brach frenetischer Beifall des begeistert aufspringenden Publikums los. Pfiffe, Bravi Blumen, Sonderapplaus und stehende langanhaltende Ovationen für alle Orchestersolisten und -gruppen, für die Chorleiter und auch zu Recht auch für den jungen Dirigenten. Ein großer Konzertabend, wie man ihn selten erlebt hat.

(c) Johannes Vesper

3. Sinfoniekonzert der 161. Saison des Sinfonieorchesters Wuppertal. 19. Und 20.11.2023 im Großen Saal der Historischen Stadthalle Wuppertal.

Johannes Vesper 21. November 2023

Besonderer Dank an unsere Freunde von den MUSENBLAETTERn, Wuppertal


3. Sinfoniekonzert
Wuppertal
Historische Stadthalle

20. November 2023

Julie Adams, Sopran
Karen Cargil, Mezzosopran
Konzertchor Wuppertal (Einstudierung Thorsten Pech)
Kartäuserkantorei Köln (Einstudierung Paul Krämer)
Dirigat: Patrick Hahn
Sinfonieorchesters Wuppertal