Mit der Salome ist dem Regisseur Barrie Kosky kurz vor Ausbruch der Pandemie im Jahr 2020 im Verbund mit Bühnen- und Kostümbildnerin Katrin Lea Tag und Lichtdesigner Joachim Klein ein Geniestreich gelungen. Wenn der Vorhang sich öffnet, sieht man – nichts. Die Bühne ist ein großes, finsteres Loch. Aber sie ist nicht einfach nur leer. Die schwarze Dunkelheit besitzt plastische Tiefe. Ein beweglicher Scheinwerferspot wirft den Fokus auf einzelne Protagonisten, modelliert sie regelrecht aus der Schwärze heraus. Daß dabei die Titelfigur im Mittelpunkt steht, klingt banal. Tatsächlich aber ist es der Coup dieser Inszenierung, in der Barrie Kosky sich erneut als einer der intelligentesten, musikalischsten, präzisesten und zugleich kreativsten Musiktheaterregisseure der Gegenwart erweist. Er beherrscht sein Handwerk perfekt. Jede Geste, jeder Blick sitzt. Niemand steht einfach nur zufällig irgendwo herum. Niemand bewegt sich unmotiviert.
In Ambur Braid hatte er die ideale Darstellerin für seine Sicht auf die Salome gefunden und es ist ein Glück, daß sie nun in der Wiederaufnahme erneut die Titelpartie übernommen hat. Braid ist nahezu ununterbrochen auf der Bühne präsent, zieht sich nur selten für kurze Momente zurück, um mit dem Wechsel der Kostüme für die wenigen, genau kalkulierten Farbakzente zu sorgen. Nichts lenkt ansonsten von ihrem Spiel ab, und das ist von einer selten gesehenen Intensität. Wie sie die unterschiedlichen Persönlichkeitsfacetten dieser gefährlichen Kindfrau herausstellt, muß man erlebt haben. Hier sieht man sie als von den Eltern gelangweilten Teenager, da geradezu unschuldig fasziniert von dem geheimnisvollen Propheten Jochanaan, hier trotzig-gekränkt von dessen Zurückweisung, da manipulativ ihren Stiefvater Herodes umgarnend. Alles geschieht im völligen Einklang mit Text und Musik, für welche die radikal reduzierte Bühne Augen und Ohren schärft, so daß man das Stück in einer ungeahnten Frische erlebt. Die Dunkelheit der Bühne hat etwas Erhellendes.
Das von der Musik evozierte Kopfkino erzeugt ohnehin Bilder, die kein Ausstatter herzustellen in der Lage wäre. Unter Leo Hussain gibt sich das fabelhaft aufgelegte Orchester stärker dem spätromantisch-süffigen Klangrausch hin, als dies bei der letzten Wiederaufnahme der Fall war. Klar, stark und in tausend Farben schillernd loten die Musiker die psychischen Zustände der Protagonisten, allesamt Ausnahmezustände, mustergültig aus.
Auch sängerisch hat Ambur Braid mit der Salome wohl die Rolle ihres Lebens gefunden. Sie kann ihre helle Stimme geradezu kindlich-naiv einfärben, verfügt dann aber über erstaunliche Kraftreserven, die es ihr erlauben, etwa im ekstatischen Schlußmonolog den Zuschauerraum regelrecht zu fluten. Grandios ist erneut Nicholas Brownlee als Jochanaan mit nie ermüdenden, saftigen Heldenbaritontönen, die er kraftvoll gegen die dekadente Königsfamilie schleudert. Ebenfalls in ihrer Partie bewährt ist Claudia Mahnke als Herodias, die mit ihrem üppigen Mezzo ein scharf gezeichnetes Porträt einer ihren Gatten verachtenden, sich in Sarkasmus rettenden Frau zeichnet. Die Rolle des Herodes ist neu mit Matthias Wohlbrecht als einzigem Gastsänger besetzt. Er beglaubigt sein intensives Spiel mit vorzüglicher Artikulation. Stimmlich ist er ein rollentypischer „Charaktertenor“ mit heller, kopfiger, mitunter recht scharfer Stimme. Auch Michael Porter hat den Narraboth neu übernommen und überzeugt mit jugendlich-saftigem Tenor. Für die Hosenrolle des Pagen der Herodias verfügt Bianca Andrew über den passenden dunkel getönten, aber schlanken Mezzosopran.
Auch die übrigen Nebenrollen sind aus dem überreichen Frankfurter Ensemble exzellent besetzt. So ist erneut ein vorzügliches Juden-Quintett zu erleben. Thomas Falkner mit seinem balsamischen Baßbariton verströmt gemeinsam mit dem Opernstudiomitglied Sakhiwe Mkosana als Nazarener in der kurzen Erzählung vom Wirken des Messias reinsten Wohllaut.
Diese radikal neue und dabei durch und durch werktreue Sicht auf ein vermeintlich bekanntes Repertoirestück fasziniert auch beim wiederholten Ansehen. Mit der ohne Abstriche vorzüglichen Besetzung und einem Orchester im Klangfarbenrausch ist hochspannendes, nahezu perfektes Musiktheater zu erleben.
Michael Demel, 8. Januar 2024
Salome
Richard Strauss
Oper Frankfurt
Wiederaufnahme am 6. Januar 2024
Premiere am 1. März 2020
Inszenierung: Barrie Kosky
Musikalische Leitung: Leo Hussain
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Weitere Vorstellungen am 12., 14., 19. und 27. Januar sowie am 3. Februar 2024.