Mit den unterschiedlichsten Aktivitäten an den unterschiedlichsten Örtlichkeiten versucht die Deutsche Oper Berlin die Zeit des Orchestergrabenumbaus im Haus an der Bismarckstraße zu überbrücken und ihr Publikum bei der Stange zu halten. Da gab es konzertante oder halbszenische Aufführungen von Zemlinskys Eine florentinische Tragödie im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, Delibes Lakmé in der Philharmonie, Rossinis Semiramide im Haus der Berliner Festspiele, eine Uraufführung einer persischen Oper in der Tischlerei, auch das Parkdeck des Hauses wurde wieder mit einbezogen, und zum zehnten Todestag von Dietrich Fischer-Dieskau wurde im Parkettfoyer ein Symposion abgehalten, bei dem unterschiedlichste Facetten des großen Sängers beleuchtet wurden, schließlich eine Büste, gestaltet von Thomas Egel-Goldschmidt, im Rangfoyer enthüllt wurde und als Abschluss eine Aufführung von Schuberts Die Winterreise, die der Künstler mehrfach und sich wandelnd nicht nur dargeboten, sondern auch aufgezeichnet hat. An der Deutschen Oper debütierte der Dreiundzwanzigjährige mit Verdis Marquis Posa, sang 32 unterschiedliche Partien, hatte über 400 Auftritte, zuletzt fünfzig Jahre nach seinem Debüt als Dirigent. Don Giovanni, Falstaff und Sachs, aber auch Uraufführungen so Henzes Elegie für junge Liebende bleiben unvergesslich.
Leider war das Programm des Symposions so gestaltet, dass nicht an jedem der drei Tage mehrere Programmpunkte nacheinander und mit kurzen Pausen dazwischen abgehandelt wurden, sondern mit stundenlangen Unterbrechungen, was für in großer Entfernung von der Bismarckstraße Ansässige eine Teilnahme erschwerte. Es begann mit einem Liederabend mit dem Titel „A Tribute to Fischer-Dieskau“, an dem vier Ensemblemitglieder, Alexandra Hutton, Arianna Manganello, Kieran Carrel und Artur Garbas Lieder von Schumann, Brahms, Wolf und Mahler vortrugen.
Der Musikjournalist Michael Wersin sprach am Tag danach über „Töne sprechen, Worte klingen-zur stilistischen Entwicklung Fischer-Dieskaus“, und das anhand der Anthologie sämtlicher Liedaufnahmen durch die Deutsche Grammophon. Unter dem Titel „War’s Zauber, war es reine Macht- Fischer- Dieskau als Wagner-Interpret“ referierte Sieghart Döhring über die Wagnerrollen des Sängers, während sich sein Sohn Matthias Fischer-Dieskau darüber äußerte, in wieweit sein Vater sich auch als italienischen Bariton bezeichnen konnte. Ein langjähriger Begleiter am Flügel nach Hertha Klust oder Gerald Moore war übrigens auch Hartmut Höll, der sich zur Zusammenarbeit mit dem Bariton äußerte, ehe eine Diskussion, bereichert durch Gesangsbeiträge, mit dem Thema „Und jetzt? Der Umgang mit dem Erbe?“ einen vorläufigen Schlusspunkt setzte, ehe am frühen Abend des 30.10. zwei Hausbaritone sich der Winterreise annahmen.
Spekulieren kann man natürlich darüber, warum nicht der längst zum Starsänger gewordene Markus Brück allein die Aufgabe übernommen hatte, den Zyklus zu singen, sondern sich, und das nach fast jedem Lied mit dem jungen Philipp Jekal, gerade erst mit seinem Beckmesser reüssierend, abwechselte, schließlich dann den Leiermann gemeinsam mit ihm singend. Die am nächsten liegende Erklärung wäre noch die, dass Fischer-Dieskau selbst im Verlauf seiner Karriere sehr unterschiedliche Interpretationen geliefert, sich seine Stimme entwickelt und damit verändert hat. Sollte also der jüngere Sänger für den sich mehr dem Fluss der Melodie hingebende, der reifere der dem Sinn der Worte nachgrübelnde sein? Dann hätte dieser Liederabend im Dienste der Fischer-Dieskau-Ehrung gestanden, weniger die Absicht gehabt, eine in sich geschlossene, individuelle Interpretation zu bieten. So blieb der Abend eher eine Reihung von Einzelliedern als die Darbietung eines in sich geschlossenen Zyklus‘.
Im Eingangslied Gute Nacht fühlte sich Jekal hörbar einer guten Diktion verpflichtet, sang mit virilem Timbre und schöner Verhaltenheit auf „Will dich im Traum nicht stören“, und auch das abschließende „An dich hab ich gedacht“ klang berührend innig. Große Bögen kennzeichneten den Vortrag von Erstarrung, bruchlose Schwelltöne und ein zu Herzen gehender Weheschrei beeindruckten in Wasserfluth, rasend schnell, aber gerade noch textverständlich wurde Rückblick gesungen. Extreme Kontraste wurden in Frühlingstraum vermieden, fein variiert in Die Post auf „mein Herz“, während in der Wetterfahne das Weitausholende der Stimme am Schluss imponieren konnte. Akustisch wahrnehmbar wird das erschöpfte Niedersinken in Das Wirtshaus, tragisch umflort das „lustig“ in Muth!
Markus Brück beginnt mit einer opernnahen Wetterfahne, kostet agogikreich die Extreme der Gefror’ne(n) Tränen aus und lässt mit vom Klavier nicht erreichten Pianissimi in Teilen des Lindenbaum das Publikum in Staunen versinken. Fast laut- und stets bruchlos bei den Steigerungen werden die Empfindungen in Auf dem Flusse wiedergegeben, bis schließlich der stimmliche Ausdruck sich zum „reißend wild“ entwickelt. Beeindruckend ist in Einsamkeit die Steigerung des Ausdrucks in der Wiederholung, schön das Fahlwerden der Stimme bei „wie weit noch bis zum Grabe“, das sich in Die Krähe weit zu öffnen scheint. Fast expressionistisch klingt Im Dorfe, Der Wegweiser führt in Pianissimi, bei denen der Flügel kaum mithalten kann, während die Nebensonnen noch einmal hörbar machen, über welch reiches Farbspektrum der Bariton verfügt, dem ebenso wie seinem jungen Kollegen John Parr ein zuverlässiger Begleiter ist.
Ingrid Wanja, 31.10.2022
Deutsche Oper Berlin, 31. Oktober 2022 / Symposion & Liederabend zum 20. Todestag von Dietrich Fischer-Dieskau