Sollte dem leidgeprüften Berliner Opernfreund, der sich tapfer durch Guantanamo-Käfige, Chicagoer Gefängnisse, Berliner RTL2-WGs gekämpft, der ausgehackte Augen und verspeiste Eingeweide verdaut hatte, die letzte Hoffnung und Vorfreude auf eine Opernvorstellung in Erhabenheit und Schönheit vergällt werden? Zumindest wirkte die Ankündigung des designierten Intendanten der Deutschen Oper Berlin, Aviel Cahn, so, der vor der Wiederaufnahme von Amilcare Ponchiellis La Gioconda verkündet hatte, mit ihm würde es keine Vorstellungen mehr geben, denn die Kulissen seien abgenutzt und ihre Aufbewahrung zu aufwändig. „Addio per sempre, Gioconda“, also und, teilweise posthum, ein inniger Dank an Egon Seefehlner, der das Stück auf den Spielplan gesetzt, an Siegfried Palm, Götz Friedrich, Udo Zimmermann, Kirsten Harms und Dietmar Schwarz, die es auf ihm gehalten haben. Ihnen allen ist zu verdanken, dass Generationen von Opernbesuchern das Genre nicht für eine Fortsetzung des Sozialkunde-Unterrichts mit anderen Mitteln hielten, zudem denen des Schocks, des Ekels, der Lächerlichkeit ansahen, sondern sie mit dem Charme bemalter Pappe, die durchaus einen Palazzo Ducale vortäuschen kann, mit historischen Kostümen, die den Träger nicht verunzieren will, mit einer Personenregie, die auch die Bedürfnisse des singenden Menschen in Rechnung stellt, vertraut machte.
Filippo Sanjust hatte in Rom Unterlagen zu Originaldekorationen aus der Entstehungszeit des Werks aufgespürt. Außerdem war er für die Regie und die Kostüme verantwortlich. Erstere „funziona“ immer noch, letztere sind eine Augenweide. Warum die Vorstellung erst ab einem Alter von 16 Jahren empfohlen wird, ist nicht nachvollziehbar. Meine Kinder fanden sie im Grundschulalter trotz des Selbstmords der Titelheldin einfach wunderbar.
Am 11. Februar nun fand sich ein Publikum, nein, besser eine Gemeinde, in der ausverkauften Deutschen Oper ein, teils um sich zu verabschieden, teils wohl auch um durch ihre Anwesenheit zu protestieren, denn die Verlautbarung im Tagesspiegel hatte für viel Aufregung bei den Opernfreunden gesorgt. Auch der Berliner Kultursenator war erschienen und hielt die gesamten fünf Stunden durch, schien sehr angetan und setzt sich, so kann man nur hoffen, für das Weiterbestehen der Produktion ein.
Noch einmal wurde das Auge verwöhnt mit einem Szenenapplaus herausforderndem Schiff und ebensolcher Ca d’Or, mit sinnvoll in das Stück integriertem Ballett, das noch einmal die Dreiecksgeschichte zwischen Laura, Alvise und Enzo nacherzählt, mit einer stimmigen, Sängerbedürfnisse berücksichtigenden Personenregie und durchaus auch mit einem ein Augenzwinkern hervorrufenden Pflegen kleiner Sängereitelkeiten. Insgesamt aber stürzten sich alle Mitwirkenden, Solisten, Chor wie Orchester mit offensichtlicher Wonne in das Bühnengeschehen, und im Publikum wird so manchem bewusst geworden sein, warum er sein Herz an die Oper gehängt hat und ihr trotz vieler Enttäuschungen, ja Entstellungen treu geblieben ist. Einen Riesenapplaus erhielt der erfahrene John Fiore für seine Leistung mit dem Orchester, die im genüsslichen Auskosten der Partitur auch Plakatives nicht scheute, die Leidenschaften kochen und Liebe wie Hass nicht um Ausdrucksmöglichkeiten verlegen werden ließ. Der Chor, einstudiert von Jeremy Bines, zeigte sich von seiner allerbesten Seite.
Zwar ließ das Sängerensemble Wünsche offen, was die vollkommene vokale Beherrschung der Rolle angeht, nicht aber, was das Engagement für dieselbe betrifft. Eingesprungen für Joseph Calleja war der Italiener Angelo Villari, der durch eine für heutige Zeiten phänomenale Diktion bestach, sich äußerst musikalisch verhielt, engagiert Leiden und Freuden des Enzo durchmaß, aber nicht über ein strahlend südländisches, sondern ein recht dröges Timbre verfügt. Trotzdem wurde sein Cielo e mar wegen der sensiblen Interpretation zu Recht mit viel Szenenapplaus bedacht, beachtlich war, wie sein Tenor die Ensembles, so im dritten Akt, dominieren konnte. Viel Brunnenvergifteressenz mischte Dalibor Jenis dem Bariton seines Barnaba bei und entließ das Publikum mit einem furchteinflößenden Wutgeheul ob des ihm entgangenen Sinnengenusses. Zu einem bemerkenswerten basso profondo hat sich Marco Mimica, einst Ensemblemitglied, entwickelt und konnte so dem Alvise ein scharf umrissenes vokales Profil verleihen. Gleich drei kleinere Partien und allesamt höchst zufriedenstellend interpretierte Philipp Jekal mit Zuane, Sänger und 2. Gondoliere.
Eine imposante Cieca orgelte Marianne Cornetti und verlieh der unselig im canale morto zu Tode Gekommenen auch viel darstellerische Würde. Sinnliche Mezzoüppigkeit zeichnete die Laura von Judit Kutasi aus, beim wilden Duett der beiden verliebten Damen im zweiten Akt hätte jedem Tenor Angst und Bange werden müssen. Nicht nur der Handlung gemäß, sondern auch vokal ging der Mezzosopran als Siegerin daraus hervor. Carmen Giannattasio, für die die Gioconda eine Grenzpartie sein dürfte, hatte viele Kräfte für den letzten Akt aufbewahrt, legte einen fulminanten Suicidio hin und konnte danach sogar noch mit schönen Koloraturen verzaubern. Das Publikum wusste ihre Leistung zu schätzen und feierte sie entsprechend. Ihnen allen ist es zu verdanken, dass man trotz verdienstvollster Leistungen auch anderer Sänger, anderer Dirigenten und Orchester in aber, ach, ganz anders gearteten Produktionen nach langer Zeit endlich einmal wieder innerlich bewegt, mitgerissen, einfach glücklich war. Sollte das nun ein Ende haben?
Wer aber auch in Zukunft nicht auf die Berliner Gioconda verzichten will, der kann sie als CD des Mailänder Labels Myto in der Premierenbesetzung von 1974 mit Leonie Rysanek, Eva Randova, Vera Little, Franco Tagliavini, Kosta Paskalis und Peter Lagger unter Giuseppe Patané, allerdings ohne den Tanz der Stunden, erleben oder als DVD aus Wien mit Eva Marton und Placido Domingo.
Ingrid Wanja, 12. Februar 2024
La Gioconda
Amilcare Ponchielli
Deutsche Oper Berlin
Besuchte 61. Vorstellung am 11. Februar 2024
nach der Premiere am 1. März 1974
Inszenierung Filippo Sanjust
Musikalische Leitung: John Fiore
Orchester der Deutschen Oper Berlin