Ein Juwel: Schöner kann man Puccini nicht in Szene setzen.
Eigentlich wollte ich den Titel setzen „wenn man Oper ernst nimmt!“. Regisseur Silviu Purcarete und sein Ausstatter Johannes Leiacker haben ihr Fach gelernt; das sieht man auch noch nach 26 Jahren. Die Produktion dieser Bohème ist einfach zum Niederknien schön; für mich eine der gelungensten meiner 45 Kritikerjahre, wie immer, ausverkauft – trotz Karneval. Es hat sich herumgesprochen, dass man diese Kultinszenierung einfach sehen, gesehen haben, muss. Im Rahmen des Elends auf heutigen Opernbühnen, wo Dilettanten dem Opernpublikum läppische, einfallslose Einheits-Bühnenbildern präsentieren, erleben wir hier (zum letzten Mal?) Bilder, die von Liebe zur Oper, von sinnvoller Schönheit und einfach immer wunderbar passenden Szenen in Erinnerung bleiben. Es wird eine Geschichte mit Musik erzählt, und am Ende hat man Tränen in den Augen.
Purcarete erzählt die Handlung ebenso stringent wie liebenswürdig charmant, mit kleinen großen Bildern und viel Empathie. Es ist die Geschichte der Mimi, die anfangs von Rodolfo in der Düsternis der so lieblos wie kalten Dachmansarde eine kleine Sonnenblume (Bild seiner Liebe und der letzten Hoffnung) geschenkt bekommt, unter der sie (diese taucht im grandiosen Schlussbild in Riesengröße wieder auf) schließlich stirbt. Das Bild, der große Bogen, schließt sich dann am Ende wie in einem Film; die Bohèmiens verschwinden hinter einer großen quadratischen Fotoblende. Dann verschwindet das Krankenbett unter der gigantischen Sonnenblume in einer kreisförmigen Blende. Das passt derart ergreifend zur großartigen Puccini Musik, dass einem das Herz stockt. Es sind jene Aktschlüsse, so einfach wie genial, die man, einmal gesehen und durchlebt, nie wieder vergisst.
Erwähnenswert: die so bezaubernd wie liebenswürdig inszenierten kleinen Dinge und Momente des Alltags, wie ein einsamer Schneemann, Männer der Müllabfuhr, die gerade zur Arbeit gehen, die ankommenden Marktfrauen oder Kinder, die sich im Hintergrund, einen Schlitten ziehend, vorbeibewegen; simple Gegenstände verzaubern, wie große Kabelrollen, die sich wie von Geisterhand bewegen (die Reste der Elektrifizierung und Kanalisierung von Paris), und sogar der Schneefall wirkt weder kitschig noch überflüssig, sondern hat Stil (schon als der Vorhang noch geschlossen ist). Alles passt grandios.
Wenn sich Rodolfo und Mimi ihre Liebe bekennen, ma quando vien lo sgelo, öffnet sich die schale Dachmansarde passend im großen Ausbruch der Musik zu einer epischen Breite von seltener Schönheit und Perspektive. Hausdächer entschweben wie von Geisterhand und im Hintergrund öffnet sich der Blick auf eine ferne und fein ausgearbeitet Modelllandschaft vom Paris des 18. Jahrhunderts – davor ein großes leeres Schneefeld. Purcarete und Leiacker nutzen die Perspektive und Technik der einmaligen Aalto Bühne und realisieren den Zauberkasten, welcher eigentlich jede (!) Opernpräsentation ausmachen sollte. Dafür gehen wir in die Oper! Bühnenästhetik, die uns mit phantasiereichen Bildern staunen macht.
Der Essener Chor und ganz besonders der Kinderchor (Patrick Jaskolka) leisten Großes. Im zweiten Akt zeigen beide Klangkörper mit viel Verve und mit exzellentem Klang, wie lebendig Puccinis Musik ist. Und über den Abend hinweg beweisen die Essener Musici unter der Stabführung von Tommaso Turchetta, dass auch mal eine Quadratur des Kreises möglich ist, wie man die sprichwörtliche Leichtigkeit des Seins mit der Schwere auch wuchtigster Orchester-Crescendi verbindet, ohne irgendjemanden zu erschlagen. Turchetta dirigiert so einfühlsam wie dramatisch passend und atmet mit den Künstlern in einer flüssigen, modernen und nicht allzu rubatohaft-süßlichen Klangwolke.
Wenn die Stimmen des Studentenquartetts nicht harmonieren, kann man eine Bohème vergessen. Umso erfreulicher, dass auch dieser gesangliche Bereich vom hauseigenen Team wieder bestens abgedeckt wurde. Es lebe das Ensemble-Theater! Alejandro del Angel, Tobias Greenhalgh, Baurzhan Anderzhanov sind ein Dream-Team, und wenn ich Heiko Trinsinger (Rudolfo) als „Old-Star“, besser „All-Star“, separat erwähne, denn weil ich ihn in den letzten fast 25 Jahren immer auf den Punkt präsent erlebt habe – ein großer Charakter-Sänger, der nie enttäuschte, mit wie immer toller und bewundernswerter Bühnenpräsenz und Stimme. Eine Seele und Stütze des Aalto-Theaters!
Jelena Bankovic Musette hat die passende große Puccini-Stimme – eine vielfach unterschätzte, schwierige Partie, welche aber so ungeheuer wichtig ist. Sie war besonders im phänomenal gelungenen Quartett des 3. Aktes das sprichwörtliche Tüfelchen auf dem „i“. Wann hört man das so ausgewogen? Brava!
Die wunderbare Anna Sohn aus Dortmund sprang kurzfristig für Jessica Muirhead (Mimi) ein und bewies, dass sie mehr als ein adäquater Ersatz war, mit dem großartigen Sängerteam bestens harmonierte und vor allem ihr Finale so bewegend wie tragend dramatisch rüberbrachte – auch ein Träumchen für diese Inszenierung. Bravissima!
Ich habe immer wieder den Eindruck, dass in einer solchen Produktion zu singen, einfach Spaß macht.
Fazit: Ein Musiktheaterabend, der nicht nur der vielfach geschundenen Seele des Publikums (und des Rezensenten!) gut tat, sondern der zeigte, warum wir die Oper lieben. Darum gehen wir ins Opernhaus. Eine Trauminszenierung – keine traumatische oder traumatisierende. So publikumsfreundlich wie anspruchsvoll werktreu. So modern wie altbacken. Ganz große Oper findet in Essen statt. Hoffentlich noch lange im Repertoire!
Wir setzen Purcarete und Leiacker nun endlich, 26 Jahre später, ein Denkmal mit unserem Opernfreund-Stern. Das ist Puccini at his best! Lucevan le stelle…
PS:
Man müßte diese Produktion verfilmen oder zumindest an Hochschulen mit dem hauseigenen Video in der Ausbildung junger Regisseure und Bühnenbildner zur Pflicht machen.
Peter Bilsing, 13. Februar 2024
La Bohème
Giacomo Puccini
Aalto-Theater Essen
Premiere 15. Novemer 1997
Besuchte Dernière: 11. Februar 2024
Regie: Silviu Purcarete
Ausstatter: Johannes Leiacker
Dirigat: Tommaso Turchetta
Essener Philharmoniker