„Ich will fort von hier“, klagt die Nixe Rusalka in Antonin Dvoráks Oper „Rusalka“, der ein Libretto von Jaroslav Kvapil zugrunde liegt, das seine Motive Andersens Märchen „Die kleine Seejungfrau“ und dem Undine-Mythos verdankt. Den Märchencharakter treibt Ansgar Weigner in seiner Inszenierung der Handlung aber über weite Strecken gründlich aus. Nur in der wunderbaren Naturszene, in der sich Rusalka in ihrem „Lied an den Mond“ nach dem fernen Prinzen sehnt, zaubern Lichtregie, rieselnder Gold- und Silberflitter und ein Stück Rollrasen nächtliche Märchenstimmung herbei. Ansonsten erfährt der Märchenstoff in der Krefelder Inszenierung eine radikale psychologische Umdeutung.
In einem grotten- und ruineartigen, blaugrünen Kellerraum spielt sich ein beispielloses Familiendrama ab, das vor allem Rusalka als Opfer sieht. Sie ist in Weigners Deutung eine an den Rollstuhl gefesselte junge Frau, die vor allem durch ihre Mutter, eigentlich die Hexe Jezibaba, in Abhängigkeit und krank machender, erstickender Fürsorge gefangen gehalten wird. Die Mutter hindert Rusalka konsequent am Erwachsenenwerden. Aber nicht nur die Mutter, auch der als Vater agierende, offensichtlich alkoholkranke Wassermann versucht Rusalka daran zu hindern, ein selbstbestimmtes, freies Leben zu führen, das sie durch die Liebe zu einem Mann, dem Prinzen, zu gewinnen hofft. Dessen Portraits zieren die abgeblätterte Wand über der Schlafecke, in der das Gitterbett Rusalka zu Untätigkeit und Bewegungslosigkeit verdammt.
Der Küchentisch im Vordergrund bietet den zu drei Schwestern umgedeuteten Elfen den Platz für scheinbar trautes Familienglück, eine aufwärts führende Treppe mit einer hell erleuchteten offenen Tür, zu der sich Rusalka zu Beginn vergeblich hinauf zu robben versucht, gaukelt mögliche Befreiung aus der gefängnisartigen Situation vor. Dieses Bühnenbild Tatjana Ivschinas spiegelt die bedrückende Atmosphäre in der Familienkonstellation treffend wieder. Dass die Mutter dann doch ihrer Tochter durch alle möglichen Zaubermittel den Weg zu ihrem Prinzen ermöglicht, sie dafür aber zu Stummheit verdammt, erscheint in dieser Lesart des Märchenstoffes allerdings kaum schlüssig.
Recht blass bleibt das Bühnenbild des zweiten Aktes. Der leere Raum wird von einer weißen Regalwand mit Weingläsern und Weinflaschen begrenzt und weist mittig den Zugang zu einer Art Wintergarten mit Blumen auf. Vor diesem Hintergrund nimmt das Unheil seinen Lauf. Rusalka liebt ihren Prinzen und beide wollen heiraten. Doch da tritt in flammend roter Robe Rusalkas Mutter in Gestalt einer Fürstin auf und macht sich den Bräutigam der Tochter gefügig. Dieser Einfall der Verschmelzung beider Frauengestalten zu einer Person rettet zwar das Inszenierungskonzept Weigners, indem der perfide Machtanspruch der Mutter gegenüber ihrer Tochter die höchstmögliche Steigerung erfährt, mutet aber dem Zuschauer schon ein hohes Maß an Toleranz für überraschende Konstruktionen zu. Rusalkas Hilferuf an den Vater kann dieser nicht positiv beantworten, er ist nun ein am Stock gehender alter Mann, der sogar im Rollstuhl von seiner Frau geschoben werden muss, ein sinnfälliges Bild für die allumfassende Dominanz der Mutter in dieser Familientragödie.
Rusalka kehrt in den Kreis der Familie zurück, die sich anschickt, das Weihnachtsfest zu begehen. Rusalka ist von diesem Fest voller Geschenke und einem auf dem Tisch prunkenden Putenbraten aber ausgeschlossen und wird in ein Kellerloch verbannt, wodurch das angebliche Familienidyll als bitterböse Satire entlarvt wird. Der Preis, den Rusalka für die Rückkehr in die Familie zahlen muss, ist die Ermordung des Geliebten. Am Schluss ist alles wieder so wie am Anfang. Rusalka liegt in ihrem Bett und wird von ihrer Mutter mit Tabletten und Streicheleinheiten versorgt. Sie ist wieder das gehorsame Kind, das sich an die Mutter kuschelt. Ende gut, alles gut? Nein, natürlich ganz und gar nicht!
Lässt die Inszenierung trotz des sicherlich interessanten Ansatzes manche Fragen offen und bleibt auch nicht ohne Brüche, so erfreut die musikalische Darbietung ohne Einschränkungen. Sophie Witte ist schauspielerisch und sängerisch eine ideale Besetzung in der Titelpartie. Aus einer samtweichen Mittellage schwingt sich ihr grundsätzlich lyrischer Sopran in strahlende Spitzentöne auf. Die Arie „An den Mond“ singt sie mit einer zu Tränen rührenden Innerlichkeit. Insgesamt eine mehr als beeindruckende Leistung, wenn man außerdem noch bedenkt, dass auch in einem Haus wie Krefeld in der Originalsprache gesungen wird.
Milan Bozhkov, der schon an großen Häusern reüssiert hat, bleibt mit seiner kräftigen und höhensicheren Tenorstimme seiner Rolle als Prinz nichts schuldig. Besonders in der Sterbeszene gelingt dem bulgarischen Tenor eine differenzierte, gerade auch in den lyrischen Passagen wundervolle Gestaltung. Die Doppelrolle der Jezibaba/Mutter und der Fürstin verkörpert Eva Maria Günschmann auf bewundernswerte Art. Seit vielen Jahren ist die Mezzosopranistin aus dem Ensemble der Oper Krefeld/Mönchengladbach nicht wegzudenken. Sie verleiht dem Zerrbild einer vorgeblich fürsorglichen Mutter eine stimmlich und schauspielerisch beklemmende Intensität. Auch Matthias Wippich als Wassermann beeindruckt bei seinen z.T. aus dem Off erklingenden Warnrufen an Rusalka mit dunklem, bedrohlich klingendem Bass.
GMD Mihkel Kütson bringt mit Chor (Choreinstudierung: Michael Preiser) und Orchester der Niederrheinischen Sinfoniker die herrliche Musik der Oper in allen Schattierungen und leuchtenden Farben zum Klingen. Es ist schon erstaunlich, was ein Haus wie Krefeld zu leisten in der Lage ist. Schade nur, dass eine solch bravouröse Leistung nicht durch ein ausverkauftes Haus gewürdigt wird. Die anwesenden Besucherinnen und Besucher geizten aber nicht mit lang anhaltendem, stürmischem Beifall für alle Beteiligten. Nicht ganz unverdient war der Jubel besonders groß, wenn Sophie Witte, die Sängerin der Rusalka, vor den Vorhang trat.
Norbert Pabelick, 20.10.2022
Antonín Dvořák „Rusalka“ / Premiere am 02.10.2022 Theater Krefeld
Inszenierung: Ansgar Weigner
Musikalische Leitung: Mihkel Kütson
Niederrheinische Sinfoniker