Frankfurt: „Carmen“, Georges Bizet

Barrie Kosky ist im vergangenen Jahrzehnt zu einem der zentralen Regisseure in Europa und darüber hinaus geworden. In sehr hoher Schlagzahl produziert er einen Bühnenerfolg nach dem anderen, vom Longseller seiner auf mehreren Kontinenten gezeigten Zauberflöte über seine weithin beachteten Bayreuther Meistersinger, Produktionen in Salzburg, Wien, Aix, Glyndebourne, Amsterdam, Zürich, München, London, seinem Stammhaus in Berlin bis hin zu seinen Frankfurter Regietaten: dem phantastischen Doppelabend Dido/Blaubart, dem spannenden Hercules und der zuletzt wiederaufgenommenen, radikal reduzierten Salome.

Varduhi Abrahamyan (Carmen) / © Barbara Aumüller

Und eben der umwerfenden Carmen. Kosky ist kein Stückezertrümmerer, sondern ein Unterhaltungskünstler mit untrüglichem Instinkt für Bühnenwirksamkeit, wenn auch mit unkonventionellem Geschmack. Er serviert das totgespielte Repertoire-Schlachtroß als temporeiche Revue und trifft dabei den Charakter dieser von Bizet mit Schlagern gespickten Oper auf den Punkt. Geradezu genial entgeht der Regisseur zwei Fallen, in die allzu viele Carmen-Produktionen tappen: der Dialog-Falle und der Folklore-Kitsch-Falle. Natürlich kann man heute nicht mehr die nachträglich von fremder Hand hinzugefügten Rezitative aufführen. Natürlich muß ein Regisseur, der dramaturgisch auf der Höhe der Zeit ist, den Charakter des Stückes als Opéra comique beachten, also die Ursprungsfassung mit gesprochenen Dialogen verwenden. Der französische Text wird aber dabei nicht selten von nichtfrancophonen Sängern mehr schlecht als recht deklamiert und von einem deutschen Publikum nur verstanden, wenn es mit den Augen auf den Übertiteln klebt, statt dem Bühnengeschehen zu folgen. Ohne Musikuntermalung können sich diese Sprechszenen ziehen wie Kaugummi. Die Lösung dieses Problems in der Frankfurter Produktion ist frappierend: Sie präsentiert anstelle der Dialoge Zwischentexte, die Kosky aus dem Libretto und der zugrundeliegenden Novelle des Prosper Mérimée sehr geschickt zusammengestellt hat. Von der Schauspielerin Claude De Demo werden sie geschmackvoll und suggestiv vorgetragen und über Lautsprecher eingespielt. Damit ist dann schon zu einem guten Teil auch noch das Folklore-Kitsch-Problem gelöst. Denn die Atmosphäre eines sommerlichen spanischen Platzes im ersten Akt oder einer Gebirgsschlucht im dritten Akt muß nicht mit Pappmaché-Kulissen simuliert werden. Sie wird von der verführerischen Stimme der Erzählerin vor dem inneren Auge heraufbeschworen.

Abraham Bretón (Don José) und Kateryna Kasper (Micaëla) / © Barbara Aumüller

Das reale Bühnengeschehen spielt sich vor und auf einer riesigen Showtreppe ab, die große Auftritte erlaubt und dafür sorgt, daß der sehr präsente Chor sinnvoll im Raum verteilt werden kann, ohne einfach nur herumzustehen. Sehr geschickt und wirkungsvoll modelliert die Lichtregie (Joachim Klein) aus dem schlichten Bühnenbild Stimmungen heraus, definiert Räume und wirft Schlaglichter auf die Protagonisten. Schwarz dominiert als Farbe der Kostüme. Davon hebt sich das schlichte Weiß der Micaëla dann ebenso ab wie die Torerotracht, in der Escamillo auftritt. So ist spanisches Lokalkolorit durchaus immer wieder präsent. Diese Inszenierung lebt aber ganz besonders von den Choreographien, die Otto Pichler mit sechs Tänzerinnen und Tänzern erarbeitet hat. Immer wieder gelingen so Momente der geradezu genialen Amalgamierung von Musik und Tanz. Etwa das Terzett zu Beginn des zweiten Aktes wird nicht nur musikalisch überwältigend musiziert mit von Strophe zu Strophe bis zur Raserei sich steigerndem Tempo, auch die Choreographie, welche die Profitänzer mit den drei (tänzerisch übrigens begabten) Sängerinnen vereint, ist wieder eines der optischen Filetstücke des Abends.

Cecelia Hall (Mercédès), Andrew Kim (Remendado), Varduhi Abrahamyan (Carmen), Liviu Holender (Dancaïro) und Elena Villalón (Frasquita)
© Barbara Aumüller

Die Vorstellungen der aktuellen Wiederaufnahmeserie waren schnell restlos ausverkauft. Das ist selbst bei einem derart beliebten Repertoire-Renner nicht selbstverständlich. Es zeigt sich darin auch ein Vertrauensvorschuß auf die Frankfurter Besetzungsliste. Das Publikum wird für dieses Vertrauen nicht enttäuscht. Für die Titelrolle hat man sich mit Varduhi Abrahamyan eine der derzeit meistbeschäftigten Carmen-Sängerinnen als Gast an das Haus geholt. Sie setzt die Souveränität ihrer Rollenerfahrung ein, ohne dabei routiniert zu wirken. Ihr Mezzosopran verfügt mit einer dunkel schimmernden Mittellage und satten Tiefen über ein attraktives Fundament. Ein mitunter ausgeprägtes Vibrato hat sie gut im Griff. Abraham Bretón debütiert als Don José. Der jungen Sänger ist Mitglied des hauseigenen Opernstudios und besteht an diesem Abend seine Feuerprobe. Sein Tenor verfügt über ein attraktives, frisches Timbre, welches ihn für dieses Rollenfach prädestiniert. Man merkt ihm den Respekt vor der Herausforderung an. Mancher Bogen könnte weiter gespannt, manche Phrase eleganter abgebunden werden. Hier wird die Rollenerfahrung im Laufe dieses Aufführungszykluses zu größerer Flexibilität führen. Das Potential für ein ausgereifteres Porträt ist vorhanden. Wie musikalische Gestaltungsmöglichkeiten aus größerer Rollenerfahrung erwachsen, demonstriert Liam James Karai als Escamillo. Auch er ist Mitglied eines Opernstudios, jenes der Oper Hamburg, hat seine Rolle bereits am Staatstheater Mainz ausprobieren können und prunkt mit einem kernigen Baßbariton, der zudem mit größter Mühelosigkeit in leuchtende Höhen gleiten kann. Großartig ist Kateryna Kasper als Micaëla, die mit ihrem glockenreinen Sopran der Figur in idealer Weise einen unschuldig-mädchenhaften Ton verleiht. Zuletzt hatte sie als resolute Patriarchin in Mozarts Ascanio in Alba überzeugt und zeigt nun die staunenswerte Wandelbarkeit ihrer schönen Stimme. Unter den rollendeckend besetzten Nebenpartien stechen besonders Elena Villalón mit frischem Sopran als Frasquita und Cecilia Hall mit rundem Mezzo als Mercédès hervor. Der auch darstellerisch geforderte Chor imponiert mit satter Klangfülle.

Liam James Karai (Escamillo) mit Ensemble / © Barbara Aumüller

Die Orchesterleistung ist solide. Die Klangmagie, welche Constantinos Carydis bei der Premiere entfaltet hatte, wird auf immer unerreicht bleiben. Natürlich ist ein solcher Maßstab für eine Repertoireaufführung unfair. Aber ein bißchen mehr Differenzierung bei Phrasierung und Dynamik hätte Giuseppe Mentuccia am Pult schon aus dem Orchester hervorlocken können. Auch scheint es, daß gerade zu Beginn die eine oder andere Nachlässigkeit bei der Synchronität von Orchestergraben und Bühne auf das Konto des Kapellmeisters geht. Das Publikum feiert gleichwohl im Schlußapplaus Dirigent und Orchester – wohl stellvertretend für die geniale Komposition.

Die Auslastungszahlen zeigen, daß die Frankfurter Carmen inzwischen zu Recht Kultstatus errungen hat. Für Opern-Neulinge eignet sich die Produktion als Einstiegsdroge, für Kenner bleibt sie durch sorgfältig einstudierte Choreographien und wechselnde Besetzungen mit vielversprechenden Stimmen attraktiv. In den Folgevorstellungen darf man besonders gespannt sein auf die Micaëla von Nombulelo Yende und den Escamillo von Nicholas Brownlee.

Michael Demel, 10. März 2024


Carmen
Opéra comique von Georges Bizet

Oper Frankfurt

Premiere am 5. Juni 2016
Besuchte Vorstellung am 8. März 2024

Inszenierung: Barrie Kosky
Musikalische Leitung: Giuseppe Mentuccia
Frankfurter Opern- und Museumsorchester