Ein junger Mann stolpert während der Ouvertüre unbeholfen in Alltagskleidern auf die Bühne. Dort findet er eine Partitur oder einen Klavierauszug, beginnt sich in den Notentext zu vertiefen. Zum Schicksalsmotiv umkreisen Carmen, Micaëla und Escamillo in historischen Kostümen den jungen Mann, der sich immer weiter in die die Rolle des Don José hineinzuträumen scheint. Die Szene bevölkert sich mit Zuschauern, die in Cul-de Paris-Roben (Damen) und befrackt und mit Zylinder (Herren) vielleicht zur Uraufführung in die Opéra-Comique strömen, dem Ort der Uraufführung von Bizets Carmen und auf deren von Paul Zoller exakt nachgebildeten Bühne wo Regisseur Andreas Homoki die Oper spielen lässt.
Im Zuschauerraum des Opernhauses Zürich geht das Licht an (das exzellente Lichtdesign wie sehr oft am Haus stammt von Franck Evin), die Männer auf der Bühne intonieren den Soldatenchor (Sur la place, chacun passe) und zeigen mit dem Finger ins Zürcher Premierenpublikum (drôle de gens que ces gens-là). Wir befinden uns in einer albtraumhaften Situation – doch steckt in den Träumen ja auch immer verdrängte Wahrhaftigkeit. José gerät in seinem Traum denn auch gleich in die nächste Bedrouille, er wird vom herausragend singenden und agierenden Kinderchor bedrängt und gepiesakt und schliesslich bis auf die Unterhosen entkleidet. Wenigstens ist nun gleich seine Sergeanten-Uniform zur Stelle, und José kann sich nun auch äusserlich in die Inszenierung einfügen. Die „nervigen“ Bälger klauen ihm die Partitur, zerknüllen die Seiten und werfen sie wild durcheinander. So geschah es auch mit der echten Partitur Bizets. Nach dem Desaster der Uraufführung – die hypokriten Pariser waren entsetzt über das Sujet, den Mord, die Fahnenflucht, über eine rauchende, sexbesessene und selbstbestimmte Hauptfigur – wurde Bizets Partitur ja zuerst für Wien von von Ernest Guiraud bearbeitet (komponierte Rezitative und Balletteinlagen), knapp hundert Jahre später folgte Oesers Version, welche auf das Originalmaterial zurückgriff, wovon Bizet allerdings selbst Teile für die Uraufführung wieder gestrichen oder korrigiert hatte. Im 21. Jahrhundert legten Robert Didion (für den Verlag Schott) und Richard Langham-Smith (für die Edition Peters) neue kritische, auf dem Urtext und Klavierauszügen erster Aufführungen beruhende Herausgaben der Partitur vor. Auf der akribisch recherchierten Edition des renommierten Professors am Royal College of Music London, Richard Langham-Smith, fusst nun auch diese Zürcher Version der CARMEN. Es zeugt vom subtilen Humor Andreas Homokis, dass er solch feine Anspielungen auf Enstehungs- und Wirkungsgeschichte in seine Inszenierung dieser mit der Opéra-Comique in Paris koproduzierten Opéra-Comique einfliessen lässt. Da Homoki das Ganze als Albtraum eines linkischen, naiven Mannes ablaufen lässt, kann er auf der – bis auf ein paar Stühle und einen sich ständig öffnenden und schliessenden Vorhang – leeren Bühne auch wunderbar die Zeitlosigkeit des Stoffes (Liebeswahn, Eifersucht bis zum Femizid, Freiheitsdrang, sexuelle Selbstbestimmung) thematisieren. Der erste Akt spielt wie erwähnt zur Zeit der Uraufführung nach dem verlorenen Deutsch-Französischen Krieg, der zweite Akt in der Kneipe von Lillas Pastia ist von den Kostümen her (Gideon Davey hat sie entworfen) dezent folkloristisch gehalten, der dritte Akt mit der Schmugglerszene bei Schneefall spielt zur Zeit der deutschen Besatzung irgendwo in Frankreich.
Die Schmuggler sehen eher wie Partisanen der Résistance oder Kriegsflüchtlinge aus, die sich mit Teppichen und verschnürtem Gepäck in den Bergen verstecken. Im vierten Akt schließlich landen wir nahe an der Jetztzeit. Cortège, Quadrille und die Corrida werden am tragbaren TV-Gerät verfolgt, dazu wird in der Tradition des Botellòn – kollektives Besäufnis auf der Straße aus Pappbechern und Flaschen in spanischen Großstädten – und mit Konfetti und Papierschlangen bühnenwirksam gefeiert was das Zeugs hält, bevor dann die Schiene mit dem Vorhang der Opéra-Comique niederfährt und ein schwarz-golden schimmernder Galavorhang für das fatale Ende vom Bühnenhimmel sinkt.
Aus dem Albtraum gibt’s kein Erwachen mehr, dazu hat Bizet nach dem tödlichen Femizid des eifersüchtig rasenden José keine Musik komponiert. Auch wenn es nur ein Traum war, als Zuschauer bleibt man am Ende erschüttert zurück. Dass diese Erschütterung so vehement einsetzt, ist natürlich einerseits das Verdienst des Regisseurs Andreas Homoki, der mit seiner tief in die Charaktere und ihre Befindlichkeiten eintauchenden Personenführung – trotz der Umwege über Theater auf dem Theater und Traum – eine direkte Betroffenheit evoziert. Aber es ist andererseits auch der sängerisch-darstellerisch herausragenden Besetzung aller Partien zu verdanken, dass so eine bewegende Unmittelbarkeit des Geschehens zu erleben ist. Saimir Pirgu verströmt mit seiner bronzen strahlenden Tenorstimme ungestüme Leidenschaft, bewegt sich vor allem im Forte Bereich bombensicher, vermag aber auch zartere Phrasen in voix-mixte berührend einzusetzen (die Blumenarie purer Wohlklang!), zeigt eine starke Bühnenpräsenz und wirkt nie weinerlich, sondern ist schlicht und einfach als naiver Jüngling vollkommen überfordert mit seiner Situation. Für mich der Sympathieträger des Abends.
Ganz anders natürlich die selbstsicher mit ihren Reizen spielende und kalkulierende Carmen von Marina Viotti: Ein beeindruckendes Rollendebüt. Die Habanera gestaltet sie mit ausgeklügelter Differenzierungskunst, nicht guttural-erotisch und plakativ chargierend, sondern subtil mit dynamischen Abstufungen variierend. Sie setzt ihre körperlichen Reize sparsam – mal ein entblösstes Knie – aber genau abzielend auf die erhoffte Wirkung ein. Ganz stark ist Marina Viotti auch in den anderen unverwüstlichen Szenen und Ensembles dieser unsterblichen Erfolgsoper: Verführerisch bewegt sie José zu ihrer Freilassung mit den zauberhaft vorgetragenen Chansons z.B. Près des remparts de Seville, begeistert mit dem baskischen Lied Les tringles des sistres tintaient, das im Refrain bereichert wird mit den fantastisch mit Viottis Timbre verschmelzenden Stimmen von Niamh O’Sullivan als dunkel timbrierte Mercédès und Uliana Alexyuk als leuchtend strahlende Frasquita. Die drei gestalten auch das Kartenterzett im dritten Akt mit der gebotenen gespenstischen Eindringlichkeit und formen zusammen mit Spencer Lang und Jean-Luc Ballestra das diffizile Schmugglerquintett im zweiten Akt mit grandioser Klasse.
Der vierte Akt gehört dann ganz dem klang- und farbenprächtig singenden Chor der Oper Zürich (einstudiert von Janko Kastelic) und dem fatalen Liebespaar. Diese letzte Szene singen Marina Viotti und Saimir Pirgu mit unter die Haut gehender Leidenschaft, treiben sich gegenseitig Spiralen artig zu vokalen Höchstleistungen an – bis José nach der letzten verbalen Erniedrigung durch Carmen keinen anderen Ausweg mehr weiss und zum Messer greift. Dabei hätte José eine Alternative gehabt: Micaëla. Natalia Tanasii ist von Beginn weg eine unerschrockene junge Frau vom Land: Sie vermag die übergriffigen Männer in der Eröffnungsszene in Schach zu halten und fürchtet sich auch nicht vor dem Gang zu den Partisanen im Gebirge. Die Stimme von Natalia Tanasii ist überaus einnehmend, sicher geführt mit wunderbar leuchtenden Höhen – für mich war sie am Premierenabend an gewissen Stellen eine Spur zu wenig lyrisch, zu laut, zu vordergründig, das passte aber gut zur so angelegten Rolle. Aber José hat sich nicht für diese Frau entschieden, obwohl seine von ihm so verehrte Mutter sie ihm in ihrem aus dem Off vorgelesenen Brief so sehr ans Herz gelegt hatte.
Carmen hingegen hat sich schnell für eine Alternative zu José entschieden: Den Torero-Superstar Escamillo. Łukasz Goliński singt ihn mit seinem satten Bassbariton mit Verve und Entschlossenheit. Obwohl ihm Bizet die grosse, effektvolle Auftrittsarie – der Łukasz Goliński nichts an trefflicher Wirkung schuldig bleibt – und die auch musikalisch hochspannende Auseinandersetzung mit José im dritten Akt zugeschrieben hat, bleibt die Figur für mich stets etwas amorph. Das liegt weder am Sänger noch am Regisseur, sondern daran, dass die Librettisten der Figur nicht so viel Aufmerksamkeit widmeten wie Carmen, Micaëla und Don José.
Ergänzt wird das hochklassige Ensemble durch den warmstimmig und leicht anzüglich spöttelnden Moralès von Aksel Daveyan und den selbstsicher agierenden, seine höhere Position im Militär deutlich akzentuierenden Zuniga von Stanislav Vorobyov. Bei aller Hochachtung für das Geschehen auf der Bühne kam für mich der „wow“-Effekt an diesem Abend aus dem Graben: Die Philharmonia Zürich spielte Bizets Partitur mit einer Brillanz, einer Frische, einer Emphase und mit leidenschaftlichem Drive und einer rhythmischen Akkuratesse, die aufhorchen ließ, auch wenn man Bizets genialen, unsterblichen Opernknaller schon Dutzende mal gehört und gesehen hat.
Chefsache: Intendant Homoki inszenierte und GMD Gianandrea Noseda stand am Pult. Was er aus dieser so bekannten Partitur, bei der man praktisch jede Phrase mitsummen könnte, herauskitzelt, hat einfach eine unglaubliche Klasse. Das ist bis in feinste und zarteste Vor- und Nachspiele zu den einzelnen Nummern und Szenen so wunderbar dynamisch austariert und fantastisch musiziert, das hat in den „Reißern“ eine dramatische, soghafte Wucht, die einen beinahe vom Stuhl reisst. Zu Recht erhielten das Orchester und der Dirigent an diesem dankbar und warm (aber aus welchen Gründen auch immer nicht stürmisch oder stehend) akklamierten Premierenabend den enthusiastischsten Applaus.
Kaspar Sannemann, 11. April 2024
Carmen
Georges Bizet
Oper Zürich
Premiere 7. April
Regie: Andreas Homoki
Musikalische Leitung: Gianandrea Noseda
Philharmonia Zürich