Wenn Milo Rau oder seine derzeit erfolgreichen Regietheater-Kollegen angeblich ein von einem Künstler vorgegebenes Werk präsentieren, so ist das für sie nur ein Vorwand. Wie heißt es bei Goethe – „ Amadeus MozartAus eins mach Zehn… Und neun ist Eins, Und Zehn ist keins, Das ist das Hexen-Einmaleins!“ Übersetzt heißt das: Mach, was immer Du willst. Versetze es mit Kritik an der Gesellschaft (schau nur, dass Du diejenigen nicht attackierst, die Dich aufs Roß gehoben haben) und würze eine dicke Portion von „Wie sind die Guten“ dazu. Erkläre außerdem genau, mit verbal schlicht gehaltenen Statements, die im Hintergrund projiziert werden, was das Publikum zu denken (aber bitte nicht zu hinterfragen!) hat. Und keiner wird wagen, ein Wort des Zweifels oder gar der Kritik zu äußern, sonst gehört er zu den „Bösen“…
Vielleicht ein paar Worte zu der Oper, die die Festwochen nun ins Programm genommen haben, jene „Clemenza di Tito“, die für Mozart kein Glücksfall war. Der arme Kerl musste nämlich tun, was er (man erinnere an die Erfahrungen, die Salzburger Fürsterzbischöfe mit ihm machten) am wenigsten konnte – schmeicheln. Kaiser Josef II., der doch etwas wie sein Gönner gewesen war, war tot. Dessen Bruder Leopold kam aus der Toskana nach Wien, um hier den Thron (des Heiligen Römischen Reichs) zu besetzen – und von dessen Gunst viel abhängen würde. Also musste, wenn man eine Huldigungsoper schrieb (es war in Prag übrigens nicht eine „Kaiserkrönung“, wie vielfach falsch behauptet wird, sondern die zum König von Böhmen), schon das Libretto stimmen. Und von einem noblen, milden, gütigen, edlen (und was immer noch) Herrscher handeln…
So kam es zu „La Clemenza di Tito“, uraufgeführt 1791 (in Mozarts Todesjahr…) mit einem nicht eben guten, aber ideologisch richtigen Libretto. Nun, nicht alle Kalkulationen gehen auf. Viele mochten die Oper nicht, fanden sie langweilig. Und von der neuen Kaiserin und Böhmen-Königin wurde sie gleich als „deutsche Schweinerei“ (una porcheria tedesca) abgewertet…
Man tut sich allgemein schwer mit diesem „Titus“. Emotional ist immerhin viel drinnen, wenn man sich die Hauptfiguren Tito – Sesto – Vitellia ansieht. Aber wen interessiert das schon? Nicht Milo Rau, als er die Oper 2021 im Grand Théâtre de Genève – als seine erste Operninszenierung übrigens – heraus brachte. Damals herrschte schon Corona, man stieg von Live auf Streams um, und man konnte als interessierter Opernfreund die Produktion schon damals sehen – mit einigem Befremden.
Mittlerweile ist Milo Rau zum Intendanten der Wiener Festwochen aufgestiegen, die er sofort – politisch geradezu tremolierend – zur „Freien Republik“ erklärte (was immer das eigentlich heißen soll, obwohl man sich durchaus unfrei fühlt, weil man der strengsten „Sprachpolizei“ unterliegt, die es je gab). Rau hat sein Werk nun an Wien angepasst und auch schon das allerhöchste Lob eines Wiener Pressorgans geerntet, das von „der kreativsten und konfrontativsten (!!!) Interpretation“ des Werks der letzten Jahrzehnte sprach…
Nun, was sieht man? Die Bühne ist die meiste Zeit mit „Volk“ gefüllt, das absichtsvoll-sichtbar aus Nicht-Einheimischen besteht. Schon einst in Genf galt es als Sensation, dass man bei Rau (Zitat) „18 Flüchtlinge auf der Bühne“ sah. In Wien sind es angeblich 19, die sich auf der Bühne knubbeln. Und weil es auch angeblich historischen Nachhilfeunterricht gibt, wird auf die Französische Revolution hingewiesen, und die Migranten-Statisten gruppieren sich zu dem berühmten Bild „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix mit wehender roter Fahne. (Dass das Bild 1830, zur nächsten Revolution entstand, sei erwähnt – aber wir wollen nicht kleinlich sein.)
Ziemlich am Anfang (lästig, dass es da immer wieder Musik gibt, die ablenken könnte) tritt ein älterer Mann hervor, angeblich „der letzte Wiener“ (natürlich mit böhmischen Vorfahren), der daran erinnert, dass einst alle Völker der Kronländer nach Wien kamen – „und heute kommen sie von überall her“ (Motto: So ändern sich die Zeiten). Allerdings wird er von zwei Migranten-Frauen gewissermaßen überfallen und blutig geschlagen (oder umgebracht?), da kommt man gerade so richtig in Stimmung, wenn es vielleicht auch nicht die richtige Aussage ist.
Aber gleich nach der Pause wird es noch viel schlimmer. Da erzählt eine junge Ukrainerin (die zweifellos „echt“) ist, wie die Russen in ihrer Heimat hausen. Immerhin hat sie es bis Wien geschafft – was ihr in diesem Fall nichts hilft. Um zu zeigen, wie die Russen mit ihren Landsleuten umgehen, wird sie wimmernd und zappelnd zu einem Galgen geschleppt und (zusammen mit einem anderen Opfer) aufgehängt. Auf offener Bühne, vor einem Publikum, das (wenn es noch die geringste Sensibilität besitzt) vor Schreck erstarren muss. Was soll das sein? Sein Knalleffekt? Man würde das von Milo Rau gerne argumentiert bekommen, denn wenn es nur darum geht, Schock zu erzeugen, sollte er sich für ein solches Mittel genieren. Die „Leichen“ baumelten noch eine Weile, bevor sie dann bei einer Drehung des Bühnenbildes offenbar gegen Puppen ausgetauscht wurden.
Oder will Herr Rau damit erklären, dass man deshalb einen Russland-affinen Dirigenten ausladen muss, während man andererseits Leute ins Boot holt, die erklärte Palästinenser-Sympathisanten sind (und als solche notgedrungen radikalen Antisemiten sein müssen – „From the River to the Sea“ strebt, wie einst die Nationalsozialisten, expressis verbis die Vernichtung der Juden an) … Die Freie Republik funktioniert also nur in eine Richtung? Große Freiheit oder große Zensur? Geht wirklich beides, mal so, mal so, wie es dem Intendanten gerade gefällt?
Nach dem geschmacklosen Grauen der Hinrichtung wird es jedoch geradezu niedlich. Viele der Ausländer, die sich für diese Produktion gemeldet haben (es sind eine Menge Künstler aller Art darunter, vom Puppenspieler bis zur Filmemacherin), dürfen ihre Geschichte auf Video erzählen (ja, die Videoleinwand begleitet den Abend permanent, Frank Castorf sollte wirklich Tantiemen für sein Patent verlangen). Da ist manches mit einer Träne im Knopfloch, vielfach aber auch das deklarierte Glück, dass man hier sein darf. Wenn das kein knüppeldicker Kitsch ist, dann weiß ich nicht, wie man es nennen soll. Wie bunt und farbig in jeder Beziehung (es ist kein Mini-Rassismus damit gemeint) die Stadt Wien heute durch die Migration ist, mag zweifellos ein Thema sein – aber in Zusammenhang mit Mozarts „Titus“ interessiert es mich nicht
Und wie passt Mozarts „Titus“ nun in all das hinein? Gar nicht, natürlich, aber darum geht es nicht. Da müssen ein paar Sänger (Dresscode: aus der Lumpensammlung, Titus selbst am Ende im Frauenrock, dieses Statement muss auch noch sein) herumirren und ihre Arien singen, denen oft niemand zuhört, weil man anderes begutachten muss. Eine Geschichte ergibt sich selbstverständlich nicht, und ob man ohne die Versicherung, dass es so sei, wirklich mitbekäme, dass der milde Herrscher ein übler Opportunist ist, der sich nur vor seinem Volk fürchtet,… na ja, behaupten kann man ja alles, damit man eine entsprechend machtkritische Note mitbringt (auf gut Wienerisch: no na…).
Es spielte die Camerata Salzburg unter der Leitung von Thomas Hengelbrock, es sang der Arnold Schoenber-Chor, und wegen der Solisten muss kein Wiener Opernfreund in diesen Abend gehen. Von dem man sich innig wünschen würde, Milo Rau hätte die Finger von Mozart gelassen. Warum macht er nicht wieder eines seiner Doku-Stücke (wo er allerdings auch Autoren mißbraucht, aber das tut weniger weh), wie man es vorige Festwochen als Gastspiel mit „Antigone im Amazonas“ gesehen hat? Allerdings – eine Opernaufführung macht halt viel mehr her. Auch medial.
Der Beifall war nicht unumstritten, einige heftige Buh-Rufe schienen Milo Rau, der sich seines Triumphes möglicherweise so sicher war, zu verwirren. Nicht alle Kalkulationen gehen auf.
Renate Wagner, 22. Mai 2024
La Clemenza di Tito
von W.A. Mozart (angeblich)
Wiener Festwochen
MuseumsQuartier
Produktion des Grand Théâtre de Genève, 2021
Wiener Premiere am 21. Mai 2024
Inszenierung: Milo Rau
Dirigat: Thomas Hengelbrock
Camerata Salzburg