Lübeck: „Prokofjew, Martin, Mussorgski“, Philharmonisches Orchester unter Stefan Vladar

So nett und rückwärtsgewandt kommt sie daher, die Klassische von Sergei Prokofjew, so schmiegsam und Nachmittags-Teetisch-tauglich. Aber ist sie das wirklich oder hat sich der ansonsten eher unbequeme Komponist da einen Scherz erlaubt? „Klassisch“ nannte er das Werk nach eigener Aussage, „erstens, weil es so einfacher war; zum anderen in der Absicht, die Philister zu ärgern, und außerdem in der heimlichen Hoffnung, letzten Endes zu gewinnen, wenn die Symphonie sich als wirklich »klassisch« erweist.“ Das Entstehungsjahr 1917 indes bot alles andere als einen humorigen Rahmen, aber offenbar hatte der Komponist die sogenannte Oktoberrevolution noch als ein Ereignis wahrgenommen, das eher Blumen als Blut bringen würde. Als in St. Petersburg die ersten Schüsse fielen, wanderte Prokofjew gerade durch den Kaukasus. Ein Jahr später floh er in die USA.

So bleibt die 1. Symphonie ein lyrisch-ungetrübter Blick zurück in eine Haydn- und Mozart-Idylle mit flotten Spätbarock-Reminiszenzen und musikalischen Rocaillen aus einer – noch – aristokratischen Attitüde heraus.

Diese parodistische Kurz-Symphonie eröffnete das 1. Symphoniekonzert der Saison 2024/25 in der Lübecker Musik- und Kongreßhalle am 15. September 2024. Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter GMD Stefan Vladar nutzte das Stück zum Warmspielen, wobei gerade der im Tempo zurückgenommene zweite Satz am überzeugendsten geriet – die Lübecker spielten das Larghetto, als würde sich ein Kätzchen behaglich auf einem Rokoko-Fauteuil räkeln.

© Andreas Ströbl

Ein echtes Kontrastprogramm boten die Sechs Monologe aus „Jedermann“ des schweizerischen Komponisten Frank Martin. Für den Sohn eines calvinistischen Pastors war der Glaube kein Weg zur Erleuchtung und Erlösung, er empfand ihn als endlosen Kampf. Dies ist als Hintergrundkenntnis wichtig, um gerade die Beschäftigung mit der Todesthematik in Hofmannsthals Schauspiel entsprechend einzuordnen. Zudem entstand die Komposition in der Kriegsdüsternis der Jahre 1943/44. Existentielle Grunderfahrung wie Todesangst, Zweifel am Sinn des Daseins und schließlich das Sich-Ergeben in das Unausweichliche prägen die letzte Stunde Jedermanns, die ihm der Tod noch zugesteht, bevor er den Lebemann mit sich nimmt.

Diese sechs Monologe sind eine Art Kurzzusammenfassung des gesamten Stücks, wenngleich sie nur einen Teil abbilden, aber in ebendem fokussiert sich die Handlung auf den Moment der Erkenntnis – Jedermann hat nur diese eine Stunde, um die Kehrtwende von der Hybris zur Demut zu vollziehen, gleichsam im Zeitraffer einer raschen, aber notwendigen Läuterung.

Der dänische Bariton Bo Skovhus, ein in Lübeck wohlbekannter Gast, gab diesem Mann auf der Kippe ins Jenseits eine ergreifende und absolut authentische Stimme. Die ganze existentielle Härte des Geschehens, die Erkenntnis der ultimativen Grenze und der eigenen Ohnmacht erhielten bei Skovhus eine beklemmende Unmittelbarkeit und vor allem erschütternde Glaubwürdigkeit. Das zuerst noch energische Aufbegehren gegen das Schicksal weicht rasch einem bitteren Erkennen-Müssen und schließlich echter Demut und Hoffnung auf Erlösung, die sich in einem aufrichtigen Gebet den Weg zu Gott erschließt. Dessen Antwort steht aus – wird Jedermann Gnade finden?

Diese Frage und zugleich die Zuversicht stand im Gesicht des Baritons geschrieben; sie erhielt vor allem in seinem Vortrag, den er mimisch und gestisch gemessen, aber ausgesprochen wirkungsvoll untermalte, plastische Gestalt. Skovhus´ starke, volle Stimme drang stets problemlos und mit brillanter Textverständlichkeit durch den Orchesterklang hindurch, ohne auch nur einen Moment zu laut zu werden. Vladar als erfahrener Operndirigent achtete zudem stets auf dynamische Ausgeglichenheit zwischen Solist und Klangkörper.

© Andreas Ströbl

Ist die Classique ein echter Publikumsrenner, so sind Mussorgskis Bilder einer Ausstellung an Popularität kaum zu übertreffen – wer kennt sie nicht bereits aus dem Musikunterricht in verschiedenen Variationen? Daß die „MuK“ so schlecht besucht war, verwundert angesichts dessen; schließlich wurde kein spätes Werk des Geburtstagskindes Arnold Schönberg gegeben. Das anwesende Publikum verhielt sich erfreulich respektvoll, von einem nervenden Zappelkind ohne Lust zum Zuhören mal abgesehen. Einen Lacher kurz vor dem ersten Ton der Bilder beantwortete Vladar mit einem preiswürdigen Blick…

Wie oft man das Stück auch gehört hat – in Lübeck konnte man es tatsächlich so frisch, differenziert, detailreich und großartig erleben, daß am Ende sogar vereinzelt die Tränen flossen. Vladars zugewandtes und sensibles Dirigat mit einerseits bindenden, großen Linien und andererseits pointierten Einsätzen schuf einen Ausstellungsbesuch, der gleichsam die wohlbekannten Gemälde mit neuen Galerie-Spots beleuchtete. Die grauen Türme des alten Schlosses ragten hoch auf in abendlichen Nebel, beim Ochsenkarren mochte man das Muhen des Zugtiers hören. In flauschig-flaumiger Weichheit ließen sich die gelben Küken streicheln und aus den Portraits der beiden Juden sprach die Schwere des Leids einer Existenz am Rande der Gesellschaft. Der unheimlichen Finsternis der Katakomben stand die eigentümliche Hexenhütte gegenüber und schließlich – nicht alle Gemälde können in der knappen Rückschau abgebildet werden – ragte majestätisch das Große Tor von Kiew auf, mit goldenem, schweren Glockenschall, so machtvoll, wie man ihn selten vernommen hat. Wie strahlte dieses Tor in der Phantasie, als man im Musikunterricht der 70er Jahre diese Klänge zuerst vom Plattenspieler hörte, und mit welcher Angst denkt man im zweiten Jahr des russischen Angriffskriegs auf das angebliche Bruderland an all die wundervollen Baudenkmale, die den Ukrainern Identität geben und die gerade deswegen Ziel von feindlichen Raketen sind. Das Finale des Werks geriet mehr oder weniger gewollt zu einem Hymnus an die Kultur und das Durchhaltevermögen der Ukraine, mit de Glockenschlägen der Hoffnung und Unbeugsamkeit.

Langer, verdienter Applaus mit vielen Bravo-Rufen beschloß dieses ganz besondere Konzert.

Andreas Ströbl, 15. September 2024


Sergei Prokofjew, Symphonie Nr. 1 D-Dur op. 25, Symphonie classique
Frank Martin, Sechs Monologe aus „Jedermann“
Modest Mussorgsky, Bilder einer Ausstellung (Orchesterfassung von Maurice Ravel)

Lübeck, Musik- und Kongreßhalle

15. September 2024

Musikalisch Leitung: Stefan Vladar
Bariton: Bo Skovhus
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck